Der Kugelfaenger
Hand. „Wussten Sie, dass sie einen kleinen Sohn hat, Tom? Er ist ein Jahr alt. Ich habe ein Foto von ihm gesehen. Wussten Sie das?“ Sie sieht ihn nicht an, sondern blickt ins Glas.
Tom senkt den Kopf ein wenig. „Nein. Das habe ich nicht gewusst.“
„Und wer hat sie erschossen? Und warum? Wissen Sie das?“ Evelyn klingt so sachlich und distanziert, als würde sie das alles gar nichts angehen. Kaum zu glauben, dass er sie wenige Stunden vorher in extrem apathischem Zustand in ein Taxi geschoben hat.
Tom wählt seine Worte mit Bedacht. „So wie es aussieht, hat sie ihr Exfreund erschossen, von dem sie sich vor wenigen Wochen getrennt hat. Nachdem er den tödlichen Schuss abgegeben hatte, hat er sich hinter seinem Stuhl versteckt. Er hatte einen Schock.“
Evelyn sagt nichts, sondern nickt nur, so als wüsste sie das alles schon.
Tom sieht sie bekümmert an. „Wie geht es Ihnen jetzt?“
„Hm. So la la. Ich habe ein paar der Beruhigungspillen meiner Tante eingeworfen, die ich bei ihr abgezweigt habe.“
„Verträgt sich das mit dem Alkohol?“, fragt er argwöhnisch.
Sie zuckt mit den Schultern. „Weiß ich nicht.“ Dann holt sie aus ihrer Bademanteltasche eine Zigarette und zündet sie mit einem Streichhölzchen an. Die Schachtel hat das Logo des Hotels.
„Manchmal habe ich wirklich Angst um Sie“, sagt er.
„Ich auch“, sagt sie und bläst den Rauch aus.
„Kann ich auch eine haben?“ Tom deutet mit dem Kopf auf ihre Zigarette.
„Das ist die Letzte“, sagt sie und hält sie ihm entgegen.
„Vielen Dank.“ Er nimmt sie und zieht zweimal daran, dann reicht er sie ihr wieder.
Evelyn saugt den Rauch in ihre Lungenflügel und betrachtet dann die Zigarette mit nachdenklich gerunzelter Stirn. „Rauchen ist nicht gut für die Haut“, meint sie.
„Es ist auch nicht gut für die Lunge“, ergänzt Tom.
„Es macht gelbe Zähne.“
„Und grässlichen Mundgeruch.“ Er bläst den Rauch aus.
„Man kriegt ein Raucherbein“, sagt Evelyn fachkundig.
Tom mustert die glimmende Zigarette. „Wieso rauchen wir dann?“
„Hm – gute Frage.“ Evelyn nimmt ihm die Zigarette aus der Hand. Eine Zeit lang rauchen sie abwechselnd und schweigen. Dann fragt sie unvermutet: „Haben Sie Angst vor dem Tod?“ Dabei sieht sie Tom nicht an.
Tom hat keine Ahnung, ob er vor dem Tod Angst hat. Nun ja, er hat Angst, dass sein Vater an diesem hartnäckigen Krebs sterben könnte, obwohl er zu ihm nicht gerade das beste Verhältnis hat. Er hat auch Angst davor, dass seine Mutter
vor
ihrem neuen Gatten sterben könnte und er diesem Widerling bei der Beerdigung noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen muss. Und er hat ebenso Angst, dass irgendwann mal ein Kunde wegen ihm ins Gras beißen könnte, weil er zu spät seine Waffe gezogen hat. Das Problem an der ganzen Sache ist nur, dass er sich bisher zu wenige Gedanken über sein
eigenes
Ableben gemacht hat, um es wirklich als Furcht vor dem Tod zu bezeichnen.
„Ich denke, jeder Mensch hat in einer gewissen Weise Angst vor dem Tod“, sagt er bedächtig und starrt die Zigarette so intensiv an, als hätte er sie noch nie gesehen. „Haben
Sie
Angst vor dem Tod?“
Evelyn lächelt und nickt. „Ja. Eine Scheißangst.“ Dann drückt sie den Zigarettenstummel in ihrem Glas aus. „Würden Sie sich vor mich stellen, wenn mir jemand eine Kugel in den Kopf jagen wollte?“, fragt sie dann. Sie sieht ihn wieder nicht an.
Er mustert sie eindringlich um festzustellen, auf was sie hinaus will. Er weiß es nicht. „Ja“, sagt er, „ich denke schon, dass ich das tun würde. Es ist mein Job. Wenn ich es nicht tun würde, wäre ich ein ziemlich mieser Personenschützer.“
Sie lächelt gequält und sieht ihm aufrichtig in die Augen. „Danke“, sagt sie. „Ich will wirklich, wirklich noch nicht sterben.“
Tom ist ehrlich entsetzt. „Du wirst nicht sterben, Evelyn“, sagt er eilig. Das ‚du’ benutzt er eher versehentlich. „Dieses kranke Schwein wird dir nichts tun. Ansonsten hat er ein fettes Problem mit mir.“
Evelyn lächelt und sieht schon nicht mehr ganz so sorgenvoll aus. Und urplötzlich beugt sie sich zu ihm hinüber und küsst ihn mitten auf den Mund. Ihre Lippen sind warm und weich und schmecken nach Rauch und Alkohol und auch ein klein wenig nach Erbrochenem. Im Großen und Ganzen also ziemlich angenehm. Tom vergisst schlagartig alles, worum sich vorhin seine Gedanken gedreht haben. Er spürt nur noch Evelyns Lippen auf den
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