Der Kugelfaenger
am liebsten erneut alles hinschmeißen würde. Mir geht mein Job so dermaßen auf die Nerven, dass ich es Ihnen gar nicht sagen kann. Ich musste mich direkt dazu
überwinden
, für die Modenschau in Berlin zuzusagen. Und auch jetzt spiele ich noch mit dem Gedanken, es so wie das letzte Mal zu machen und einfach zu Hause zu bleiben. Ich habe ernsthafte Zweifel an meiner Berufswahl.“
Tom hätte nichts dagegen, wenn sie nicht nach Berlin fliegen würden. Er hätte es so um einiges einfacher, auf sie aufzupassen.
„Bei der Wahl des Berufs kann man ziemlich viel falsch machen“, sagt er.
Sie nickt. „Aber wissen Sie was das Absurde an der ganzen Sache ist? Als Kind wusste ich genau, was ich werden will. Nämlich Journalistin, wie mein Onkel. Und dann, als es plötzlich ernst wurde, war ich mir nicht mehr sicher. Ich war nicht blöd in der Schule. Ich hatte einwandfreie Noten. Und irgendwas musste ich ja schließlich machen. Da habe ich halt Medizin studiert.“ Sie wird nachdenklich. „Aber ich glaube, Sie können sich vorstellen, dass Tante Catherine und Onkel Henry bei meiner Entscheidung, das Studium abzubrechen und Model zu werden, nicht gerade in Freudengeschrei ausgebrochen sind. Ich glaube, ich habe sie damals ziemlich enttäuscht.“ Sie hält für eine Weile inne. „Aber ich denke auch, dass ich das nur deswegen gemacht habe, um meinen Eltern näher zu sein. Das Studium und so.“
Tom runzelt die Stirn. „Wie meinen Sie das?“, fragt er vorsichtig nach und schiebt sich noch eine Ladung Nudeln in den Mund.
Evelyn sagt eine Weile nichts mehr. Tom glaubt schon, er hat was Falsches gesagt, als sie weiterspricht. Ihre Stimme ist ruhig und gefasst, aber in ihr drin sieht es eindeutig nicht so aus.
„Meine Eltern waren Ärzte. Meine Mum hat meinen Dad kennen gelernt, als sie gemeinsam Medizin studiert haben. Als sie fertig waren, sind sie zusammen in seine Heimat Brasilien gegangen. Das hat ihrer Mutter – also meiner Großmutter – und ihrer Schwester – Tante Catherine – nicht gepasst und haben kurzerhand den Kontakt abgebrochen. Das war nicht so gut.“ Evelyn schenkt sich noch etwas Wein ein und trinkt einen Schluck.
Tom wartet geduldig und stochert in den Spaghetti.
„Nun ja, wie auch immer. Mein Vater hat dann in einem Krankenhaus in Rio de Janeiro als Assistenzarzt gearbeitet, meine Mum in einer Arztpraxis. Zwei Jahre später wurde ich dann geboren. Meine Familie hier wusste natürlich nichts davon.“ Sie lächelt leicht und schwenkt ihr Weinglas in der Hand. „Als ich zwei Jahre alt war, haben sie mich bei Freunden in Rio gelassen und sind im Rahmen eines Hilfsprogramms nach Palästina geflogen, um die Menschen dort medizinisch zu versorgen. Ursprünglich waren zwei Monate ausgemacht gewesen. Tja. Zurückgekommen sind sie nie.“
Tom schluckt schwer und hat mit einem mal den unguten Verdacht, dass dort etwas Schreckliches vorgefallen sein muss.
„In Gaza wurden sie beide von einer Autobombe getötet, die direkt neben ihnen detoniert ist. Meine Mum war auf der Stelle tot, mein Dad starb zwei Tage später an seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus. Sie waren beide erst vierunddreißig Jahre alt.“
Tom blickt sie betroffen an. Damit hat er nun wirklich nicht gerechnet. „Scheiße“, bringt er nur hervor.
„Das kann man wohl sagen. Ich bin daraufhin in Rio in einem Waisenhaus gelandet und habe dort die schlimmsten sechs Jahre meines Lebens verbracht.“ Sie atmet tief ein und in ihren Augen kann man Tränen sehen, die sie schnell wegblinzelt. „Heute habe ich praktisch keinerlei Erinnerungen mehr an meine Eltern. Und auch die wenigen Bilder, die ich von ihnen besitze, können nicht über das Loch in meinen Erinnerungen hinweghelfen, das immer größer wird. Ich kenne meine Eltern sozusagen nicht.“ Sie verzieht das Gesicht, so als hätte sie Schmerzen. „Ein scheußliches Gefühl.“
Tom sieht sie mitfühlend an. „Das tut mir leid“, sagt er mit rauer Stimme und sieht wieder in seine Pappschachtel mit Nudeln. Und er hat die ganzen Jahre über gedacht, dass
er
eine schreckliche Kindheit hatte. Na ja, schrecklich war sie schon, aber so schrecklich wie das, was Evelyn erlebt hat, war sie dann auch wieder nicht.
„Und wie kam es, dass Sie jetzt hier leben?“
„Also, sechs Jahre nach dem Tod meiner Eltern, ist dann meine Großmutter in England gestorben. Mein Großvater war damals schon zehn Jahre lang nicht mehr am Leben.
Meine Tante musste dann wohl oder übel mit
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