Der Kugelfaenger
meiner Mutter Kontakt aufnehmen. Erst zu dieser Zeit hat sie dann erfahren, dass ihre Schwester und deren Mann schon sechs Jahre lang tot sind und dass sie eine kleine Nichte hat: Mich. Tante Catherine und ihr Mann, Onkel Henry, sind dann sofort nach Brasilien gekommen und haben mich zu sich nach England geholt. Für mich war das etwas ganz anderes. Etwas völlig neues. Ein regelrechter Kulturschock. Und wissen Sie, was mein erster Gedanke war, als ich in London aus dem Flieger gestiegen bin?“ Sie lacht. „Ich dachte: ‚Mann, ist es hier scheißkalt’.“
„Das war auch mein erster Eindruck“, meint Tom und lacht nun ebenfalls.
„Ich hatte das Pech, dass es Winter war, als ich angekommen bin. Es war wirklich schweinekalt.“
Tom nimmt einen Schluck vom Wein. „Und Sie sind dann bei Ihrer Tante und Ihrem Onkel aufgewachsen?“
Sie nickt. „Und ich kann Ihnen sagen, dass sie die besten Ersatzeltern der Welt waren. Na ja, für mich sind sie so was wie meine
Eltern
. Meine eigenen habe ich nicht wirklich kennen lernen dürfen, so sehr mir das auch Leid tut. Und darum glaube ich wirklich, dass ich nur deshalb Medizin studiert habe.“ Evelyn macht eine Pause und sieht Tom über die flackernde Kerze hinweg an. „Und wie steht’s mit Ihnen?“
Tom schluckt eine Portion gekauter Spaghetti runter. „Also, mein Leben ist bestimmt nur halb so aufregend wie das Ihrige.“
„Das werden wir ja dann sehen“, sagt Evelyn und grinst. „Leben Sie schon immer in New York?“
Er schüttelt den Kopf. „Ich bin in San Francisco geboren.“
„Hatten Sie eine schöne Kindheit?“
„Sie war durchschnittlich.“
„Warum das?“
Er seufzt. „Obwohl ich ein Einzelkind war, hatten meine Eltern nie wirklich Zeit für mich. Meine Mum war eine liebevolle Mutter, aber als Anwältin hatte sie sehr viel um die Ohren. Genauso wie mein Vater, nur dass ich ihn noch seltener gesehen habe. Er war ständig unterwegs und so gut wie nie zu Hause, weil er als Leibwächter auf andere Menschen aufpassen musste.“
„Waren Sie viel allein?“
„Nein. Eigentlich nicht. Mein Leben hat sich jedoch erst dann ins negative gewendet, als meine Mum meinen Dad mit einem anderen Kerl betrogen hat. Obwohl ich den Verdacht habe, dass auch Dad nicht ganz unschuldig war.“ Er grinst. „Als ich zwölf war, haben sich die beiden schließlich scheiden lassen. Ein Wunder, dass ihre Ehe überhaupt so lange gehalten hat. Ich bin mit meinem Vater nach New York City gezogen, wo er dann seine eigene Sicherheitsfirma gegründet hat und es fortan anderen überlassen hat, herumfliegende Kugeln abzufangen.“ Er zerknüllt eine Serviette zwischen seinen Fingern. „In unserem zweiten Jahr an der Ostküste hat mein Vater dann eine andere Frau kennen gelernt. Eine ziemlich unangenehme Person, die schon einen Sohn hatte, Rusty. Ich habe bis heute nicht verstanden, was er an ihr findet.“
„Verstehen Sie sich gut mit Ihrem Vater?“
Er schüttelt den Kopf. „Unser Verhältnis zueinander war noch nie das Beste. Er war immer der Meinung, Kinder sollten ihr Leben so früh wie nur möglich selbst in die Hand nehmen. Was ich auch gemacht habe. Das College musste ich mir durch Pizzaausliefern und Kellnern selbst finanzieren. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag bin ich von zu Hause ausgezogen, weil ich es mit meinem Vater, seiner neuen Frau und meinem Stiefbruder nicht mehr ausgehalten habe. Ich habe mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, wie zum Beispiel als Küchenhilfe in einem italienischen Restaurant. Da habe ich dann entdeckt, dass mir das Kochen Spaß macht. Der Chefkoch hat das auch mitgekriegt und mich hin und wieder mal an den Herd gelassen.“ Tom lächelt versonnen, als er sich daran erinnert.
„Das mit Ihren Eltern tut mir leid“, sagt Evelyn leise.
„Na ja“, meint Tom. „Am Anfang fand ich die Scheidung auch ziemlich doof, aber später war mir das umso lieber, denn ich habe ab da immer doppelt so viele Geschenke gekriegt wie zuvor. Zum einen von meinem Vater und der Familie in New York und zum anderen von meiner Mutter in San Francisco und ihrer neuen Familie. Heute ist das aber nicht mehr so.“ Tom grinst. „Mein Vater hasst mich und meine Mutter interessiert sich nicht mehr für mich, seit ich ihrem neuen Mann bei der Hochzeit ins Gesicht gesagt habe, dass ich ihn nicht ausstehen kann.“
Evelyn lacht verschmitzt, schiebt die Schachtel von sich weg und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. Dann sagt sie: „Erzählen Sie
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