Der Kulturinfarkt
Praxis der Mündigkeit herzustellen, wird meist unterschätzt. Auch wenn die Laientheater für ihre Jahresproduktion immer wieder dieselben Operetten wählen, sind solche Produktionen prägende Erfahrungen sozialen Engagements. Die verkannte Bedeutung der Laienkultur manifestiert sich auch darin, dass viele Kommunen dazu übergegangen sind, ihre kommunale Infrastruktur zu vermieten, statt sie den Laien gratis zur Verfügung zu stellen. Der Proberaum für die Volkstanzgruppe kostet jetzt. Trotzdem erwartet der Gemeinderat, dass die Tanzgruppe bei der Einsetzung des neuen Bürgermeisters die Ehrendamen stellt, umsonst natürlich. Laien benötigen dreierlei: eine Charta der Kommunen, die solche Gegengeschäfte weiterhin möglich macht, Mittel für qualifiziertes Personal und, auf Verbandsebene, Weiterbildungsprogramme für Produktionsleiter und künstlerisches Personal. Dazu sind keine großen Strukturen nötig, einzig Fachstellen auf der Ebene von Kommunalverband oder Land beziehungsweise Kanton, welche über die Mittel verfügen und diese nach sachlichen Kriterien zuteilen.
Sehr viel anspruchsvoller ist die Aufgabe, wenn es um die Filetstücke geht. Die großen Stücke des Kuchens müssen demokratisch verwaltet werden, und hier unter Beteiligung aller relevanten sozialen Gruppen. Zuletzt ließe sich, wie in der Schweiz ohnehin üblich, immer noch eine Volksabstimmung anhängen, mitsamt dem Risiko, dass die Sache den Bach runtergeht, was wiederum heilsam sein kann. Das Problem an Volksabstimmungen ist, dass sie immer nur punktuell wirken, nie programmatisch. Soll das neue Museum einen höheren Betriebszuschuss kriegen als das alte? Diese Frage ist leicht mit Ja beantwortet. Aber sie blendet aus, wo das neue Museum in der Kulturlandschaft steht, wie es sich zu anderen verhält und was genau sein Auftrag ist. Deshalb benötigen wir Kulturräte oder Jurys, die sozial durchmischt sind. Also keine Kommissionen von unsereins, keine Versammlungen von Experten der Kunst oder der Musik, sondern wenn schon Experten, dann Vertreter des realen Lebens draußen. Solches setzt einen anderen Begriff von Teilhabe voraus. Die »andere« soziale Realität in »unserem« Kulturbegriff abzubilden, also ein bisschen Türkei auf die Bühne zu bringen, reicht nicht. Teilhabe bedeutet vielmehr direkten Zugang zu den Ressourcen, welche kulturelle Manifestation erlauben. Oder anschaulich: keine Gremien aus lauter lupenreinen Einheimischen mehr, welche im Namen der anderen reden, sondern Gremien, in denen die unterschiedlichen Kulturen sich bereits begegnen und wo Ressourcenanteile und Qualitätsbegriffe verhandelt werden.
Das wäre das kulturgeografisch gedachte Schweizer Modell, umgelegt auf die soziokulturelle Dimension. In der helvetischen Bundeskulturförderung müssen die vier offiziellen Kulturen – deutsch, französisch, italienisch, rätoromanisch – sich laufend über ihre Anteile verständigen. Es gibt keine Quoten und keine Maßstäbe, nur den immer wieder erneuerten pragmatischen Zugriff. Denn es ist so: Die Angebote bereitzustellen und dabei voll guten Willens auch die Entferntesten zu bedenken ist eines. Doch den Entfernteren und Entferntesten den Tresorschlüssel anzuvertrauen, ist etwas anderes. Solches meint eine Einladung an die mündigen Bürger, zu entscheiden. Und solches meint eine Neuverteilung der Macht im Kultursektor im Zeichen der Partizipation, die ohne Zeigefinger auskommt.
Derartige multikulturelle und multisoziale Kulturräte sind auf kommunaler wie Landesebene denkbar. Sie würden über lokale und regionale Mechanismen der Förderung befinden, nicht über gesamte politische Systeme. Ein Kulturrat würde eine Kulturlandschaft skizzieren in Funktion sozialer Ausprägung. Und er würde dann die Umsetzung an Individuen delegieren. Das könnten, Schreckgespenst der Experten, auf Zeit gewählte, nicht wiederbestellbare, aber gut alimentierte Intendanten der Kulturförderung sein. Sie würden auf der Basis eines Konzepts eingestellt, das Elemente aus der Skizze konkretisiert und Antwort auf die Fragen der sozialen Diversität, der Durchlässigkeit zwischen Laien und Profis, des Phantasiepotenzials, der unternehmerischen Aspekte gibt. Solch ein Kulturrat würde also nicht über einzelne Werke und Projekte urteilen, sondern über Personen, denen er ein Maximum an Handlungsfreiheit innerhalb ihrer Aufgabe und auf Zeit zugesteht. Die Gießkanne könnte im Schuppen bleiben. Nicht die typischen Kompromisse von
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