Der Kulturinfarkt
dem ältesten, ehrwürdigen Lichtspieltheater »Delphi« noch programmatisch überleben oder wird man ein erheblich eingeschränktes kulturelles Montagskino einzurichten haben? Welche Auswirkungen wird es haben, wenn das so gewünschte neue Konzerthaus nicht gebaut oder das Stadtgeschichtliche Museum nicht erweitert wird?
Diese Fragen werden in der kulturpolitischen Praxis so nicht gestellt. Folglich kommt die in ihnen angelegte Versachlichung der kulturpolitischen Verteilungsdebatte nicht zum Tragen, nicht auf Bundes, nicht auf Landes- und nicht auf kommunaler Ebene. Veränderungen passieren einfach. Würde man die kulturpolitischen Aktivitäten im Licht der Güterklassifikation und vor dem Hintergrund der Leistungsfähigkeit von Kulturmärkten auf der einen, die Wirkung von meritorischer Förderung auf der anderen Seite diskutieren, wäre ein deutlich höheres Niveau erreicht.
Warum geschieht das nicht? Ein Grund ist, dass das kulturpolitische Denken auch in den Vergabegremien für Fördermittel überwiegend vom inhaltlichen Angebot her geführt wird und die institutionellen Strukturen nur unzureichend berücksichtigt. Kultur als Politikersatz ruft danach, dass man Werte und Inhalte formuliert, Urteile fällt und die Welt in gut und schlecht, unterstützungswürdig und barbarisch unterteilt. Wenn man es selbst nicht auf die Theaterbühne schafft, so will man wenigstens mitbestimmen, was dort geredet wird. Zum Aufbau und zur Pflege kultureller Infrastruktur braucht es eine andere Debatte als vorwiegend bauchgesteuerte Bekenntnisse zu oder Ablehnungen von Inszenierungen, Ausstellungen, Seminarangeboten, Erfahrungen der eigenen Kinder in der Musikschule.
Es ist doch komisch – nie würde jemand auf politischer Ebene infrage stellen, dass die Feuerwehr Brände löschen, die Bahn fahren soll, dass die Wasserversorgung gesichert und die Justiz unbeeinflussbar sein muss. Diesbezüglich beklagen wir allenfalls den Bierdurst der ländlichen Feuerwehr oder die Sprachlosigkeit der Deutschen Bahn, vielleicht ab und an mangelnde Schnelligkeit bei der Behebung von Rohrbrüchen beim Wasser oder zu langsame Verfahren in der Justiz. Doch dass die genannten Infrastrukturbestandteile diese und jene Ziele und Inhalte verfolgen sollen, darüber wird nicht entlang von Geschmacksurteilen, sondern es wird mit Gründen debattiert, wie viel Infrastruktur dieser Art benötigt wird, wie viele Feuerwehrstützpunkte nötig sind, wie leistungsfähig Bahnhöfe sein sollen, welche Frischwassermenge im Netz zur Verfügung stehen muss.
Würde man kulturelle Infrastrukturen, ebenso wie die Bahn oder die Wasserversorgung, strukturell von Zielen und von den Nutzern her denken, würde die Diskussion sofort eine andere sein. Dass Nutzerinnen und Nutzer unmündig sind, wäre jedenfalls kein Argument. Das wäre, als würde die kommunale Wasserversorgung daran bemessen, ob die Nutzer sich die Füße waschen oder nicht. Wenn Füße nicht gewaschen werden, liegt das nicht an der Wasserversorgung, sondern am nicht gelungenen Bildungstransfer im Fach Hygiene.
Zugunsten eines Nachdenkens über Ziele und Infrastruktur wäre das natürlich nie so formulierte Argument der politischen Kulturwächter aufzugeben, sie wüssten, was Kulturnutzern zukommt. Um eine Strukturdebatte führen zu können, müssten sie ihre eigene Attitüde prüfen als selbst ernannte gute Menschen der Kultur, als »ästhetische Erzieher des Menschengeschlechts« und im Hintergrund auch als Interessenten und Nutznießer der Förderung. Eine auf infrastrukturelle Fragen bezogene Kulturdebatte und eine damit zusammenhängende Bildungsdebatte könnten für die Kulturwächter recht unbequem werden. Dass sie mehr als dringend notwendig ist, dafür haben wir in unserem Buch Argumente und Beispiele zusammengetragen.
Würde man aufhören, die Diskussion über Kultur nur qualitativ, also vom Einzelfall und vom Bestand her zu führen, dann könnte die Güterklassifikation eine wichtige Argumentationshilfe sein. Infrastruktur hat zu funktionieren, sie ist ganz überwiegend gesetzlich verankert und in einer Weise organisiert, dass öffentliche Regeln dominieren, Qualität kontrolliert und Konkurrenz ausgeschlossen ist. Nach einigen Experimenten in den vergangenen Jahrzehnten wissen wir: Sind Polizei, Fleischbeschau oder Justiz in privaten Händen, steigt der öffentliche Reglementierungsbedarf exponentiell, und die vermeintlichen Einsparungen durch Privatisierung werden durch den wachsenden
Weitere Kostenlose Bücher