Der Kulturinfarkt
Kommissionen ständen im Zentrum, sondern das Profil einer Persönlichkeit. Solche Persönlichkeiten würden aus ganz individueller Sicht eine kulturelle Domäne gestalten, Theater, Literatur, Musik, Design. Solche Individualisierung auf Zeit könnte dem gerecht werden, was künftig »Qualität« heißen soll: ein durch eine Vision genährter Anspruch, auf den hin alle Entscheidungen führen. Ein solches Verfahren würde den Künstlern überdies zu einem Gegenüber verhelfen, das ihnen angesichts der anonymisierten Formen finanzieller Zuwendung heute fehlt. Zwar kennt man die Mitglieder der Jurys, doch niemand ist persönlich verantwortlich. Abgesehen davon, dass Entscheidungen von Jurys meist noch von politischen Gremien abgesegnet werden müssen.
Der Verantwortungsbereich von Intendanten umfasst Kultureinrichtungen genauso wie die Förderung unabhängiger Projekte. Das Modell ließe sich auch auf eine Kulturregion übertragen, indem man spartenübergreifende Intendanzen schafft. In jedem Fall benötigt der Intendant Weisungsbefugnis. Nur so kann er oder sie aus drei Theatern, die dasselbe tun, drei Theater machen, die höchst unterschiedliche Traditionen, Konzepte und Ansprüche pflegen, oder eben auch nur zwei oder ein Theater.
Aus der an eine Person gebundenen Gesamtschau eines Sektors oder einer Region ergibt sich von allein das Modell kultureller Komplexe, in denen Vielfalt als fundamentaler Anspruch enthalten ist. Kultureller Komplex besagt ganz einfach, dass die interpretative Fortschreibung des alten und des neuen Theaterrepertoires oder des Musikkanons nicht mehr reicht, sondern dass die Förderung des Künstlernachwuchses, die Entwicklung von Komponisten oder Autoren, der Einbezug von Laien, die Auswertung der Produktion in anderen Medien, die Zusammenarbeit mit Verlagen, die Gestaltung öffentlicher Anlässe ganz einfach dazugehören. Ein Verlag kann genauso gut literarische Stipendien ausrichten wie ein Staat oder eine Kommune, mit Literaturhäusern und -festivals kooperieren, Übersetzungen fördern – kurz: Motor sein im Geflecht der Kulturproduktion und -distribution. Das wäre horizontale Integration, im Unterschied zur isolierten Sicht, die das heutige System prägt. Mehrere solcher – in ihren Ansprüchen und Orientierungen ganz unterschiedlich ausgelegten – Komplexe zusammen ergeben dann das kulturelle System einer Stadt oder einer Region. Es schafft erweiterte Sinnzusammenhänge. Es verbindet populäre und elitäre Elemente, es erzeugt innere Spannung. Dafür braucht jeder Komplex Mittel, Freiraum, erstklassige künstlerische Köpfe und Manager, ja Unternehmer.
Das dynamische Element, welches das System zukunftsfähig macht, fußt auf drei Elementen. Erstens der nach sozialen Kriterien variabel zusammengesetzte Kulturrat, der kein Expertengremium von Kulturprofis ist, zweitens die Schlüsselrolle einiger Individuen, hier Intendanten genannt, drittens die zeitliche Begrenzung ihres Amtes, was zyklische Erneuerung erzwingt.
Denkbar ist, dass die kulturpolitische Mission kultureller Komplexe alle zehn Jahre ausgeschrieben wird. Und dass sich private Konsortien selbst um Aufbau und Betrieb kultureller Komplexe bewerben könnten. In Bereichen wie Literatur oder Film sind wir es bereits gewohnt, warum soll es in anderen Sparten nicht auch möglich sein? Auch ihre Partner im Einzelnen – Kulturschaffende, Ensembles, Spezialisten – suchen und erneuern sie im Ausschreibungsverfahren.
Zur Neubesetzung der kulturpolitischen Rollen fügt sich die regelmäßige Prüfung der Ergebnisse: Vielfalt des Outputs, Beteiligungsgrad variierender Öffentlichkeiten, Vernetzungsgrad, Eigenfinanzierung. Die Erfolgsindikatoren werden nicht an das einzelne Werk angelegt, sondern an die sozialen Zusammenhänge, die geschaffen werden. Dabei darf, auch das ein ungehöriger Gedanke, eine gehörige Portion Provinzialismus mitspielen. Kunst ist relevant, wenn sie von der finanzierenden Gemeinde genutzt, beachtet, kritisiert wird. Dadurch wird sie prägende Kultur. Erst daraus kann Exzellenz entstehen, die für andere anziehend wirkt.
Jene punktuelle Förderung, die sich nicht in kulturellen Komplexen unterbringen lässt, erfolgt aufgrund mittelfristiger Entwicklungsprojekte. Der Terminus Entwicklungsprojekte meint dabei: Fördermodelle, welche mehrjährigen (finanziellen) Raum für Aufbauarbeit schaffen, also eine geförderte Schonzeit, ein außerinstitutionelles, künstlerisches Start-up. Die Vergabe selbst erfolgt,
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