Der Kulturinfarkt
Baugeschichte folgend baut. Die Hoheit über das kollektive Gedächtnis eines Bundeslandes hat die Direktion des Landesarchivs. Solche Regeln sind zweckmäßig, denn wer könnte sonst garantieren, was und was nicht als kollektives Gedächtnis einer Kultur bewahrt bliebe. Diese Bereiche sind relativ unangefochten. Auch wenn Archivleistungen wenig nachgefragt werden, sind sie als Trägerinnen des kollektiven Gedächtnisses nicht infrage gestellt. Beide Bereiche sind durch Gesetze geregelt. Was allerdings öffentliche Güter sind, unterliegt regional und historisch unterschiedlichen Bewertungen.
Meritorische Güter. Ein Großteil der kulturellen Förderfälle, des kulturpolitischen Handlungsfeldes, gehört allerdings zu den meritorischen Gütern und Dienstleistungen. Sie erscheinen auf Märkten und stehen in Konkurrenz zu anderen Wirtschaftsgütern. Sie werden aber durch politische Entscheidung unter den besonderen Schutz der Förderung gestellt. Das meritorische Wirken der öffentlichen Hände führt in der Regel dazu, dass Angebote vergrößert und Preise gesenkt werden. Dies wirkt auf die Märkte zurück.
Dass Kulturpolitik ihr Handeln meist nicht im Licht dieser ordnungspolitisch relevanten Klassifikation reflektiert, wird immer dann besonders deutlich, wenn über Kürzungen oder Veränderungen gesprochen werden muss. Wenn in irgendeiner Zeitung oder auf irgendeiner Ätherwelle die Nachricht weitergegeben wird, dass bei der Bibliothek x oder dem Landeskulturzentrum y Gelder gestrichen werden, dass das Theater z geschlossen wird, dafür eine Konzertscheune im Tor zur Welt oder ein Festival auf dem Lande doch etwas mehr Geld bewilligt bekommt, dann werden diese Sachverhalte mit Formulierungen wie »unverantwortliche Kürzungen in der Kultur« oder »entscheidend ist, dass bei der Kultur nicht gespart wird« kommentiert. Über staatliche Aufgaben und öffentliche kulturelle Infrastrukturen politisch zu diskutieren ist fast unmöglich. Wenn von Kultur die Rede ist, geht es immer ums Große und Ganze. Es gibt keine Podiumsdiskussion zur Kultur, in welcher nicht mindestens 80 Prozent der Teilnehmer an die Verantwortung aller für die Kultur appellieren, wenn der Ausgangspunkt die rasenmähermäßige Kürzung aller Haushaltspositionen inklusive des Kulturbudgets ist. »So geht es nicht, die Kultur ist das Wichtigste überhaupt« versus »Alle müssen sparen, da kann keiner ausgenommen werden« lauten die Eckpunkte solcher Debatten. Warum verlaufen kulturpolitische Diskussionen in Deutschland so inbrünstig und geschwollen? Ein Verständnis von staatlichen Aufgaben im Licht der oben dargestellten Klassifikation könnte die Diskussion erheblich entspannen.
Betrachten wir typische meritorische Förderfälle. Interessant wäre die Auseinandersetzung mit dem Problem, was zehn Prozent Kürzung beim seit 20 Jahren jährlich stattfindenden Puppentheaterfestival des ortsansässigen Grundschullehrers einerseits bedeuten und was andererseits die Stadtbibliothek noch anzuschaffen hätte, würden ihr zehn Prozent, also der Anschaffungsetat, gestrichen. Wie viele Kurse bei der VHS in den Ertrag bringenden Fachbereichen Gesundheit (»Fit nach 65«) oder Kreatives (Porzellanmalerei) müssen zusätzlich angeboten werden, um bei zehn Prozent Kürzung dennoch das Alphabetisierungsprogramm ausweiten zu können? Wie wirken sich zehn Prozent Kürzung beim Städtischen Museum in der Museumspädagogik und wie beim Etat für die nächste Sonderausstellung aus? Könnten die Städtischen Bühnen tatsächlich das B-Orchester und das Ballett aufrechterhalten und somit ein vollständiges Dreispartenhaus bleiben, würden zehn Prozent gekürzt? Gibt es Dienstleistungen des kommunalen Archivs, die bei zehn Prozent Kürzung nicht mehr geleistet werden können, und entsprechen die noch bleibenden Möglichkeiten den Vorschriften der Archivgesetze?
Ob der Oberbürgermeister bereit sein wird, die von ihm persönlich vor drei Jahren installierte »Akademie im Rathaus« mit zwölf üppigen Sonntagsmatinees (»Ich habe mir das als kulturgestütztes Networking gedacht«) aufzugeben, um das dann wieder zur Verfügung stehende Geld in die Musikschule zu lenken? Was machen die städtischen Verantwortlichen mit den zwei Stipendienplätzen à 600 Euro pro Monat für bildende Künstlerinnen/Künstler in der wunderschön restaurierten Zehntscheuer, die auf Jahre hinaus mit Bewerbungen belegt sind? Kann das kommunale Kino im soziokulturellen Zentrum in Kooperation mit
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