Der Kunstreiter
du nicht genau verstehst.«
»Ja – hier steht: Wie dankbar waren die Eltern gegen Gott, daß sie nicht allein ihr Kind, ihre liebe Marie, wiedererhalten hatten, sondern daß die arme Kleine auch dem traurigen Leben unter solchen Leuten entrissen war! Und wie glücklich fühlte sich Marie, als sie sich endlich nicht mehr genötigt sah, unter den rohen Menschen zu leben, indem sie die Schule ordentlich und regelmäßig besuchen und fleißig lernen konnte, und jetzt doch hoffen durfte, zu einem für sie passenden Leben erzogen zu werden, zu einem Leben, das sie zu einem braven Mädchen und einer tüchtigen, wackern Frau heranbilden konnte.«
Das Kind schwieg, als es diese Zeilen gelesen hatte.
»Nun?« fragte Adele, »was ist dir dabei aufgefallen, mein Herz?«
»Das letzte, Mademoiselle,« antwortete die Kleine zaghaft: – »und jetzt doch hoffen durfte, zu einem für sie passenden Leben erzogen zu werden, das sie zu einem braven Mädchen und einer tüchtigen, wackern Frau heranbilden konnte. – Konnte sie denn das unter den – Kunstreitern nicht auch werden?«
»Mein liebes Herz,« sagte die Erzieherin mit weicher Stimme, und sie mußte sich Gewalt antun, die Rührung zu verbergen, die jene einfachen, schüchternen Worte hervorgerufen, »das Leben solcher Leute mag an sich manches Schöne und Angenehme haben, und besonders die Männer, die da ihre Geschicklichkeit und Kraft zeigen können, fühlen sich vielleicht oft wohl darin. Ein junges Mädchen gehört aber nicht in einen solchen Kreis – du bist noch nicht alt genug, um zu begreifen, weshalb nicht, aber du wirst es selber fühlen, wenn du nur einige Jahre älter sein wirst. Der Tanz und die Kunststücke auf einem Pferde mögen vielleicht – ich verstehe das nicht – für einen Mann passend und hübsch sein, aber die Frau, das junge Mädchen, die Gott geschaffen hat in stiller Häuslichkeit zu wirken, sind nicht dazu gemacht, sich in solcher Weise öffentlich zu zeigen. Das Publikum, das dabei sitzt, applaudiert allerdings und freut sich an den künstlichen Sprüngen, aber im Herzen denken alle ebenso, und von Tausenden, die in die Hände schlagen und Bravo rufen, möchte gewiß nicht ein einziger sein eigenes Kind zu solchem Leben hergeben.«
»Nicht?«
»Nein, meine Josefine, denn Kinder vor allem gehören in den Schutz des Hauses – Kinder müssen lernen, denn ihre Jugend ist die einzige Zeit, in der sie noch lernen können, und nicht etwa bloß Lesen und Schreiben, was in jetziger Zeit jeder Tagelöhner kann, sondern alles, was sie später einmal im Leben brauchen können, und was sie, wenn sie selber einmal Kinder vom lieben Gott bekommen, diese wieder lehren sollen. Bei einem solchen Leben aber können sie das nicht; sie verfehlen also den Zweck, zu dem sie hier auf Erden bestimmt sind, und wenn sie dann einmal älter werden, fühlen sie es und sind unglücklich. Darum sollen alle Kinder, die nicht nötig haben, schon in so zartem Alter ihr Brot in solcher Weise zu verdienen, dem lieben Gott recht von Herzen danken, daß er sie in Verhältnisse gebracht hat, in denen sie mit anderen guten Menschen leben und sich heranbilden können, und sollen die Zeit, die ihnen also zu ihrer Pflege und Erziehung geboten wird, recht fleißig benutzen – das, mein Kind, meint der Satz, den du nicht verstanden hast.«
Josefine schwieg eine lange, lange Weile; endlich stand sie langsam auf, legte das Buch hin, ging zu ihrer Erzieherin, und das Köpfchen an deren Schulter schmiegend, sagte sie leise: »Und glauben Sie, daß auch ich dem lieben Gott dafür dankbar sein müsse?«
»Wenn du fühlst, mein liebes Kind,« erwiderte gerührt Adele, »daß du gute Menschen um dich hast, die dich lieben und bemüht sind, dein Bestes zu wollen und dein einstiges Glück zu gründen, gewiß.«
Josefine schmiegte sich fester an sie an, legte den Arm um ihre Schultern, und während sie das Antlitz daran barg, quollen ihr ungesehen die großen, hellen Tränen aus den Augen.
20.
In der Residenz *** hatte die so plötzliche Auflösung des Zirkus Bertrand – besonders nach so glänzenden Erfolgen – im Anfange nicht geringe Sensation erregt, und die Tagesblätter füllten ihre Spalten fast eine Woche lang mit den verschiedensten Vermutungen und Gerüchten. Dann kam anderes, was ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, und der Zirkus mit all seinen Angehörigen war vergessen – und doch ließ er in einem Herzen eine tiefe und böse Narbe zurück.
Graf Geyerstein hatte in
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