Der kuriose Fall des Spring Heeled Jack: Roman (German Edition)
waren. Die Hauswirtin schloss die Tür hinter ihm und zog aus ihrem Ärmel eine kleine silberne Fingerglocke. Als Antwort auf das helle Läuten eilte ein kräftiges junges Mädchen aus der Stube. Mehl bedeckte ihre Hände, Arme und die Nase wie Puder. Sie knickste unbeholfen.
»Mutter?«
»Lauf hoch zu Schwester Raghavendra, Polly, und sage ihr, dass sie einen Besucher hat. Einen Mr …?«
»Captain Burton. « Er zog es stets vor, seinen militärischen Rang zu nennen, »Sir Burton« klang einfach überheblich.
»Ein Captain Burton. Sag Schwester Raghavendra, ich begleite den Gentleman in ihre Stube, wenn sie wünscht, ihn zu empfangen.«
»Ja, Mutter.«
Das Mädchen stampfte die Treppe hinauf und verschwand.
»Ein unansehnliches Gör, aber sie geht mir gut zur Hand. Mein Name ist Mrs Emily Wheeltapper, Captain. Mein verstorbener Mann war Captain Anthony Wheeltapper vom 17. Lanzer-Regiment. Er ist in Balaklawa gefallen. Seit sieben Jahren trage ich Trauer. Er war ein guter Mann.«
»Mein Beileid, Madam.«
»Möchten Sie eine Tasse Tee, Captain?«
»Bitte machen Sie sich keine Umstände. Ich werde nicht lange brauchen.«
»Steckt das arme Mädchen in Schwierigkeiten? Sie ist heute morgen in Tränen aufgelöst nach Hause gekommen. Ist im Sanatorium etwas geschehen?«
»Ich bin hier, um das herauszufinden, Mrs Wheeltapper.«
Pollys schwere Schritte polterten die Treppe herunter.
»Sie sagt, ihr sollt hochkommen, Mutter«, berichtete sie.
»Danke, Polly. Jetzt zurück in die Küche mit dir. Die Scones backen sich nicht von alleine. Kommen Sie doch bitte mit, Captain Burton.«
Die alte Witwe stieg langsam die Treppe hinauf, ihr Besucher folgte geduldig.
Auf dem dritten Absatz erwartete sie Schwester Raghavendra. Sie war, so schätzte Burton, etwa Mitte zwanzig. Sie war zudem außerordentlich hübsch, mit schwarzen mandelförmigen Augen und dunkler Haut. Ihre Nase war zierlich und gerade, ihre Lippen voll und sinnlich, der Mund etwas breiter, so wie man es oft bei Südamerikanerinnen sieht. Ihr schwarzes Haar war zwar hochgesteckt, aber offensichtlich sehr lang und gut gepflegt.
Burtons Nase witterte den feinen Duft von Jasmin.
Sie erinnerte ihn an ein persisches Mädchen, mit dem er einst das Bett geteilt hatte, und ein Schauer der Erregung erfasste ihn, als ihre Blicke sich trafen.
»Sie sind Captain Burton?«, fragte sie mit weicher Stimme und leichtem Akzent. »Sie sind wegen Lieutenant Speke hier, nehme ich an? Kommen Sie doch bitte mit ins Wohnzimmer.«
Er folgte ihr in ein kleines spärlich eingerichtetes Zimmer und setzte sich in den Sessel, auf den sie zeigte. Sie und Mrs Wheeltapper ließen sich auf dem Sofa nieder.
Er erkannte eine Ganesha-Statue auf dem Kaminsims, eine achtlos auf den Tisch geworfene Krankenschwesterhaube, eine kleine Flasche Laudanum auf einer Kommode.
Schwester Raghavendra saß mit geradem Rücken, die Hände im Schoß gefaltet. Sie war noch in Arbeitskleidung und trug ein bodenlanges hellgraues Kleid mit hochgeschlossenem Kragen und langen Ärmeln, darüber eine kurze weiße Jacke.
»Wenn Mrs Wheeltapper es gestattet«, sagte Burton sanft, »würde ich Sie gerne über die Ereignisse der letzten Nacht befragen, als man John Speke aus dem Sanatorium geholt hat.«
Die alte Witwe tätschelte ihrer Untermieterin die Hand. »Ist Ihnen das recht, meine Liebe?«
»Selbstverständlich«, antwortete die Krankenschwester mit einer Spur Autorität in der Stimme. »Ich werde alle Fragen so gut beantworten, wie ich kann, Captain Burton.«
»Das freut mich zu hören. Vielleicht könnten Sie mir zunächst berichten, was geschehen ist?«
»Ich sage Ihnen, so viel ich weiß. Mein Dienst begann um Mitternacht, die Schicht endet um sechs Uhr morgens. Ich wurde Lieutenant Speke zugeteilt, meine Aufgabe war nur, bei ihm zu sitzen und seine Verfassung zu überwachen. Verzeihen Sie meine Offenheit, Captain, aber wir gingen nicht davon aus, dass er noch lange leben würde. Seine linke Kopf- und Gesichtshälfte war außerordentlich schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Anwesenheit einer Schwester war nicht im medizinischen Sinne notwendig, denn man konnte nichts tun, um ihn zu retten, aber bei uns ist es Brauch, einen sterbenden Menschen niemals alleine zu lassen, falls er im Augenblick vor dem Tod zu sich kommt, um noch ein paar letzte Worte zu sprechen, eine Bitte vorzubringen oder etwas zu beichten.«
»Ich verstehe.«
»Ich hatte vier Stunden damit verbracht, ihm vorzulesen, dann
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