Der kurze Sommer der Anarchie
versuchte er, sich zu rechtfertigen: »Ich habe sie nicht darum gebeten. Sie wissen, daß ich keinen Wein vertrage, und haben irgendwo eine Kiste Mineralwasser aufgetrieben. Das ist natürlich unmöglich - du hast völlig recht.« Wir aßen wortlos weiter, dann fügte er plötzlich hinzu: »Es ist schwer, alles auf einen Schlag zu ändern. Die Prinzipien und das Leben decken sich nicht.« Nachts besichtigten wir die Stellungen. Die Luft war von einem entsetzlichen Lärm erfüllt, eine Kolonne von Lastwagen fuhr an uns vorbei. »Warum fragst du mich nicht, was diese Lastwagen zu bedeuten haben?« sagte Durruti. Ich entgegnete, ich hätte nicht die Absicht, ihm seine Kriegsgeheimnisse abzuluchsen. Da lachte er: »Geheimnisse? Das weiß doch jeder, daß wir morgen den Ebro überschreiten! So ist es!« Einige Minuten später begann er wieder: »Willst du nicht wissen, weshalb ich den Entschluß gefaßt habe, den Fluß zu überschreiten?« »Du wirst schon deine Gründe haben«, sagte ich. »Schließlich bist du der Kommandeur der Kolonne.« Durruti lachte wieder: »Das hat nichts mit Strategie zu tun. Gestern kam ein kleiner Junge von vielleicht zehn Jahren aus dem faschistisch besetzten Gebiet zu uns gelaufen. Der fragte: >Was ist denn mit euch los? In unserem Dorf wundern sich alle, daß ihr keine Offensive macht. Die Leute sagen: Jetzt hat wohl auch noch Durruti in die Hosen gemachte Verstehst du: wenn ein Kind solche Dinge sagt, dann spricht aus ihm das ganze Volk. Das bedeutet, daß wir angreifen müssen. Die Strategie spielt sich schon von aHeine ein... « Ich blickte in sein fröhliches Gesicht und dachte: »Du bist doch selber noch ein Kind!«
Später war ich noch mehrmals bei Durruti. Seine Kolonne zählte zehntausend Mann. Durruti glaubte nach wie vor fest an seine Ideen, aber er war kein Dogmatiker und mußte fast jeden Tag irgendein Zugeständnis an die Realität machen. Er war der erste Anarchist, der begriff, daß man ohne Disziplin keinen Krieg führen kann. »Der Krieg ist eine Sauerei«, meinte er voll Bitterkeit. »Er zerstört nicht nur Häuser, sondern auch die höchsten Prinzipien.« Seinen Leuten freilich gestand er das nicht ein. Eines Tages verließen mehrere Milizmänner ihren Beobachtungsposten. Man fand sie im nächstgelegenen Dorf, wo sie friedlich ihren Wein tranken. Durruti tobte: »Begreift ihr denn nicht, daß ihr die Ehre der Kolonne durch den Dreck zieht?
Gebt eure CNT-Ausweise her.« Die Missetäter zogen seelenruhig ihre Gewerkschaftsausweise aus der Tasche.
Das versetzte Durruti in noch größere Rage: »Ihr seid keine Anarchisten, ihr seid Dreckskerle! Ich jage euch aus der Kolonne und schicke euch nach Hause.« Wahrscheinlich hatten es die Burschen gerade darauf abgesehen. Statt zu protestieren, erwiderten sie nur: »Einverstanden.« »Wißt ihr auch, wem die Kleider gehören, die ihr tragt? Zieht sofort eure Hosen aus! Sie sind volkseigen.« Die Milizmänner entledigten sich in aller Ruhe ihrer Beinkleider. Durruti befahl, sie in Unterhosen nach Barcelona zu schaffen - »damit jeder sieht, daß das keine Anarchisten sind, sondern ganz gewöhnlicher Dreck!«
Il’ja Erenburg 1
Die Anarcho-Syndikalisten verfügen überall über Armee- oder Polizeioffiziere, die der Republik die Treue gehalten haben. Nun ist in einer Kolonne, die sich auf das Prinzip der »Organisierten Indisziplin« beruft, kein Platz für Offiziere: also wird der Rang der Berater einfach ignoriert. Sie gelten als bloße Mechaniker, die dafür zu sorgen haben, daß die militärische Maschine läuft. Wenn es zu regelrechten Kämpfen kommt, geben diese Männer die nötigen Anweisungen, und wenn ihnen Zeit dazu bleibt, versuchen sie, die Feuerkraft richtig zu verteilen, Drahtverhaue zu legen oder andere Maßnahmen zu ergreifen, die außerhalb des Erfahrungsbereichs ihrer Mitkämpfer liegen. Wenn die Franco-Truppen angreifen, haben die Anarchisten ihnen oft kaum mehr als ihren Mut und ihre Begeisterung entgegenzusetzen. Aber schließlich würde die Rückeroberung eines bedeutungslosen Dorfes den Faschisten keinerlei strategischen Vorteil bieten, und deswegen wird es wohl dabei bleiben, daß die Einwohner von Santa Maria weiterhin ungestört über den freiheitlichen Kommunismus diskutieren und die Milizen verpflegen können.
Wenn freilich eine Stellung von wirklicher militärischer Bedeutung bedroht ist, wie auf der Strecke Zaragoza-Huesca, so kommt es zu schweren Kämpfen und schrecklichen Verlusten an Menschenleben.
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