Der kurze Sommer der Anarchie
Welt, die Spanien seit der Aufklärung so schlecht behandelt hatte, konnte sich in einem fiktiven Mittelalter verschanzen, die bedrohte Identität sich festklammern an den institutionellen Gittern des autoritären Staates.
Die anarchistischen Theoretiker waren außerstande, solche Mechanismen zu begreifen. Ihr Horizont reichte immer nur bis Zur nächsten Barrikade. Den Innenbau des Faschismus verstanden sie ebensowenig wie das internationale Kräftespiel, in dem er operierte. Obwohl sie seit Bakunins Zeiten von der Weltrevolution sprachen und sich als Internationalisten fühlten, nahmen sie verblüfft und erbittert wahr, wie die westlichen Demokratien im stillschweigenden Einverständnis mit Mussolini und Hitler die Komödie der Nicht-Einmischung inszenierten. Von der internationalen Organisation des Kapitals hatten sie in ihren Broschüren gelesen, aber auf die Konsequenzen waren sie nicht gefaßt; bis zu einem gewissen Grad mögen sie selbst einer nationalen Mystifikation erlegen sein. Schließlich waren ihre Kampferfahrungen jahrzehntelang aufs eigene Dorf, auf die Fabrik, das Stadtviertel, das sie kannten, begrenzt geblieben. Die extrem dezentralisierte Organisationsform, die sie sich gaben, schlug ihnen oft zum Vorteil aus; aber sie war erkauft mit einer empfindlichen Verengung des Gesichtskreises. Dem Spiel der sowjetischen Politik, die längst gelernt hatte, im Weltmaßstab zu kalkulieren, sahen die Anarchisten hilflos zu. Die Waffenhilfe der Sowjetunion an das republikanische Spanien war zwar ihrem Umfang nach ziemlich begrenzt, doch in bestimmten Momenten von ausschlaggebender Bedeutung. Der politische Preis, der dafür gefordert und erlegt wurde, war astronomisch. Der Einfluß der KP nahm von Tag zu Tag zu, obwohl sie im spanischen Proletariat nie Wurzel gefaßt hatte; sowjetische Kommissare und Agenten tauchten in Madrid, in Valencia und Barcelona auf und übernahmen »Beraterfunktionen« im Militär- und Polizeiapparat. Stalin verfuhr mit der spanischen Revolution wie mit einer Schachfigur. Er machte sie zum Objekt der russischen Außenpolitik. Verstört begegneten die Anarchisten einem Internationalismus, wie er nicht im Buche stand. Als sie begriffen hatten, war es bereits zu spät. Nicht nur militärisch, sondern auch politisch stand die CNT-FAI mit dem Rücken zur Wand; für eine Revolution ist der Anfang vom Ende gekommen, wenn sie sich ideologisch entwaffnen und in die Defensive drängen läßt.
Die Milizen
Ein phantastisches Bilderbuch
Was dem Ausländer, der heute nach Katalonien kommt, zuerst auffällt, ist die Miliz. Mit ihren bunten Abzeichen und zusammengewürfelten Uniformen ist sie überall. Die Männer und Frauen der Miliz gäben ein phantastisches Bilderbuch ab. Jeder sieht anders aus als der nächste, die Monotonie der regulären Armeen ist verschwunden; es wimmelt von den wildesten und buntscheckigsten Typen.
Eine genaue Beschreibung ihrer Zusammensetzung und ihres Aufbaus ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Was die alte spanische Armee betrifft, so ist in Katalonien nur die Luftwaffe und eine verschwindend kleine Zahl von Einheiten der Republik treu geblieben. Die Regimenter, die sich gegen das Volk erhoben hatten, wurden aufgelöst und ihre Soldaten nach Hause geschickt. Nur die allerwenigsten Offiziere waren loyal geblieben und konnten im Kampf gegen den Faschismus eingesetzt werden.
Man half sich mit den verschiedenen Polizeitruppen, von denen große Teile an die Front geschickt wurden. In der Hauptsache aber stützte sich die Revolution auf ihre Freiwilligen. Die Gewerkschaften, die Parteien, die Arbeiterorganisationen und die Regierung: jeder stellte seine eigenen Kolonnen auf. Die Gewerkschaftslokale und Parteibüros wurden zu Meldestellen für die Miliz, und die Massen kamen. Männer und Frauen standen Schlange, um sich einzuschreiben. Viele mußten abgewiesen werden. Die ersten Kolonnen fuhren mit Lastwagen und Autobussen dem Feind entgegen. Niemand wußte, wo er stand, denn es gab noch keine Front. Erst nach 24 Stunden stellte man fest, daß niemand daran gedacht hatte, für Munition und Proviant zu sorgen. Der Nachschub wurde mit Lastautos hinterhergeschickt.
Die wenigsten Milizsoldaten waren militärisch ausgebildet, die meisten mangelhaft bewaffnet. Viele nahmen nur ihre Pistole mit. Die Patronen trugen sie in der Hosentasche. Von einer feldmarschmäßigen Ausrüstung konnte keine Rede sein. Viele Milizionäre liefen in Sandalen herum. Die klassische spanische Soldatenmütze
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