Der Kuss der Göttin (German Edition)
Kilometer vor der Autobahnauffahrt an einer roten Ampel halten muss. »Das ist die Wirklichkeit, Benson. Wenn du mit mir kommst, gibt es kein Zurück mehr.«
»Es gibt jetzt schon kein Zurück mehr«, sagt er und starrt geflissentlich durch die Windschutzscheibe.
»Benson?«, frage ich, als wir uns der Interstate 95 nähern. »Weißt du, wo Camden liegt?« Winziges Detail.
»Camden in Maine?«
»Gibt es noch ein anderes Camden?«
»Nicht dass ich wüsste. Zumindest nicht hier in der Gegend.«
»Dann ja.«
»Ja, das ist so eine coole alte Stadt … Ungefähr fünf oder sechs Stunden von hier. Im Osten. Na ja, Nordosten. An der Küste entlang.«
Perfekt. »Dann fangen wir dort an«, sage ich und setze den Blinker nach rechts.
»Warum?«
Sag es keinem . Die Worte hallen in meinem Kopf wider, als säße Quinn auf dem Rücksitz. »Nur so eine Ahnung.«
»Sie sind in Richtung Osten gefahren.« Er steht vor meinem Schreibtisch. Der, den ich verachte.
Ich blicke hinauf in mein eigenes, in dem dunklen Glas verzerrtes Spiegelbild. »Nimm die ab; ich hasse es, wenn ich deine Augen nicht sehen kann«, sage ich scharf. So scharf ich kann, wenn ich flüstere.
Belämmert nimmt er die Sonnenbrille ab. Ein Schaf , denke ich bitter. Genau das ist er . So sind die meisten von diesen Menschen. Nicht, dass es wirklich ihre Schuld wäre. So wollten wir sie haben.
»Konntest du ein paar Schüsse abgeben?«, frage ich, als seine Augen schließlich sichtbar sind.
»Einige mehr, und ich hätte sie womöglich noch getroffen.«
Ich lächle nur ganz leicht. »Perfekt«, sage ich. »Verängstigt und auf der Flucht. Genau so will ich sie haben.«
»Soll ich meine Männer zurückpfeifen?«
»Noch nicht«, sage ich und stelle sie mir vor. In Panik. Wie sie alles falsch macht. Sich benimmt wie ein Mensch, wofür sie sich ja auch hält. »Bleib in ihrer Nähe – beobachte sie.« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Willst du nicht sehen, was als Nächstes passiert?«
K apitel 21
I ch weiß nicht recht, warum ich Benson nicht die Wahrheit darüber sage, wohin wir fahren. Warum wir dorthin fahre n – vielleicht wegen meiner Abneigung gegen dramatische Szenen? Ich kann es wohl kaum gebrauchen, dass der Typ, den ich küsse, Stunden in meinem gestohlenen Auto auf der Fahrt zu dem Typen verbringt, den mein Herz nicht in Ruhe lassen kann. Ich stehe nicht besonders auf betretenes Schweigen.
Stattdessen sprechen wir über alles und jedes, nur nicht über die letzte Woche, und Benson lenkt mich ziemlich gut ab, wenn ich zu lange in Schweigen versinke. Wenn ich still bin, rasen meine Gedanken, und ich grüble unwillkürlich, wer – oder was – ich wirklich bin.
Ein Teil von mir ist sogar erleichtert – erleichtert, dass Elizabeth mit einer Pistole aufgetaucht ist, erleichtert, dass der Sonnenbrillentyp versucht hat, mich umzubringen –, denn das bedeutet, ich bin nicht verrückt. Andererseits habe ich heute meine Therapeutin und meinen Vormund in Ketten gelegt und ein Auto gestohlen, um ihnen zu entkommen. Etwas in mir weiß, wie das geht. Etwas, das ich nicht verstehe – eine Person, die ich nicht kenne. Das bringt mich dazu, alles infrage zu stellen – mein Leben, mich selbst, meine Erinnerungen. Wie viel von meinem Leben war eine Lüge? Bin ich eine Lüge?
Doch eine leichte Berührung von Bensons Fingern auf meiner Hand, ein müder Scherz, der Hinweis auf eine lustige Werbeanzeige – das alles holt mich ins Jetzt zurück. Sobald ich aus diesem Auto heraus bin, werde ich über die Katastrophe meines Lebens nachdenken müssen. Doch bis dahin lachen Benson und ich, reden und necken uns, gehüllt in eine kleine, viertürige eigene Welt.
Wegen Bauarbeiten und viel Verkehr auf den Straßen werden aus fünf oder sechs Stunden acht. Jedes Mal, wenn wir langsamer fahren müssen, ertappe ich mich dabei, wie ich ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad trommle. Benson hält die ganze Zeit über durch die Rückscheibe Wache, und soweit er es beurteilen kann, folgt uns niemand. Jetzt, wo ich diese Sorge wenigstens vorübergehend los bin, kann ich nur noch daran denken, endlich anzukommen.
Camden bedeutet Quinn.
Und Quinn bedeutet Antworten.
Ich bin mir nicht sicher, was mich ungeduldiger macht. Trotz der letzten zwei Tage mit Benson kann ich die Vorstellung nicht aufgeben, bei Quinn zu sein. Quinn gibt mir das Gefühl, am Leben zu sein, wie ich es seit dem Flugzeugabsturz nicht mehr hatte, als habe ein Teil von mir geschlafen und er
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