Der Kuss der Göttin (German Edition)
würde.
»Wie fühlst du dich?«, fragt er.
Ich lache. »Als könnte ich heute Nacht auf keinen Fall schlafen.«
Benson zuckt hilflos die Achseln. »Tut mir leid, ich habe es nicht über mich gebracht, dich zu wecken.« Er schweigt kurz, dann legt er die Finger unter mein Kinn. »Ich mache mir Sorgen. Du bist so müde.«
»Hey!«, kontere ich. »Ringe unter den Augen sind jetzt angesagt.« Aber mein Witz verpufft.
»Ich meine nicht körperlich.« Er mustert mich wieder lange, als wolle er noch etwas sagen, doch ich behalte meinen herausfordernden Blick bei, und nach ein paar Sekunden lässt er seine Hand fallen.
Sein Gesichtsausdruck ist so seltsam – da sind mehr Emotionen, als ic h deuten kann, und ich ertappe mich dabei, wie ich mir wünsche, ich hätte meine Kohle mitgebracht, damit ich ihn auf Papier einfangen kann und ihn vielleicht auf diese Weise besser verstehe. Ich hebe die Hand zu seinem Gesicht, und er neigt sich dagegen, fängt sie zwischen Gesicht und Schulter ein. Ich trete näher, aber er räuspert sich und hebt sein Handy, also höre ich auf. »Ich habe einen kleinen Onlinebericht darüber gefunden, was heute passiert ist«, sagt er.
»Ach ja?«, sage ich sofort neugierig.
»Da stand nicht viel, nur dass ein leeres Auto auf einem Hügel geparkt und die Handbremse nicht angezogen war.« Er blickt von dem Bildschirm auf und sagt: »Sie sagen, es wurde niemand verletzt.«
»Niemand wurde verletzt? Aber …« Ich schließe den Mund, um die Worte abzuschneiden. »Bist du sicher?« Ich muss fragen. Ich weiß , was ich gesehen habe. Die Bilder haben sich in mein Gehirn eingebrannt.
»Das steht in dem Bericht. Sie schreiben, die Büromitarbeiter seien gerade zum Mittagessen gegangen, deshalb war das Gebäude leer.«
»Und da ist nichts über … über …«
»Nichts über Quinn«, beendet Benson meinen Satz.
Ich stehe lange im Gitterschatten der Bäume. Ich habe keine Ahnung, was mit meinem Leben passiert. Es fühlt sich an, als splittere es langsam. Noch bricht es nicht auseinander, aber es ist voller spinnwebartiger Risse.
Dabei wurde es doch gerade besser.
Und dann das.
Es ist, als hätte der seelische Heilungsprozess, den ich nach dem Unfall durchgemacht habe, nie stattgefunden.
»Ich habe ihn gesehen«, sage ich.
»Ich glaube dir.«
»Nicht Quinn – ich meine, Quinn natürlich auch, aber …« Ich hole beruhigend Luft, als die schattenhafte Erinnerung endlich Form annimmt. »Ich habe den Sonnenbrillentyp gesehen. Aus Portsmouth. Nur aus dem Augenwinkel, eine Sekunde nach dem Unfall, aber ich weiß , er war es«, sage ich schnell, bevor Benson mich unterbrechen kann.
Er versucht es nicht. Es ist, als habe er es bereits gewusst. Andererseits war er ja ebenfalls da. Er hat den Kerl wahrscheinlich auch gesehen und wollte nicht, dass ich es weiß.
Ich blicke zu Benson auf, zwinge mich, ihm in die Augen zu schauen. »Sind alle darin verwickelt? Du hast mich gestern gefragt, was ich glaube, wie tief das geht, und ich wusste es nicht. Ist das eine Verschwörung, Benson?«
Benson schweigt. Er verschränkt die Arme vor der Brust, dann überlegt er es sich anders und schiebt die Hände stattdessen in die Hosentaschen. Obwohl mein Verstand danach schreit, er möge einfach etwas sagen, stehe ich schweigend da und beobachte ihn. Vielleicht zuckt mein Auge.
»Was, wenn Quinn ein Geist ist?«, fragt Benson leise.
Ich lache los, bevor ich mich stoppen kann. »Ernsthaft? Nein. Es gibt keine Geister.«
»Es gibt auch keine Leute, die Labellos, Stifte und Stressbälle aus dem Nichts hervorzaubern können. Denk mal darüber nach, Tave, es würde alles erklären: die altmodischen Kleider, das Ding mit Rebecca Fielding, dass ihn ein Auto überfährt und keiner es bemerkt.«
»Es gibt keine Geister«, wiederhole ich, doch meine Stimme ist so leise, dass es fast ein Flüstern ist. Meine Gedanken rasen. Ich habe ihn sterben sehen. Aber habe ich wirklich das Blut gesehen oder hat mein Gehirn das ergänzt? Ich schüttle den Gedanken ab und versuche, zu analysieren, was ich weiß . Quinn ist immer altmodisch angezogen; er taucht aus dem Nichts auf und verschwindet urplötzlich; er lässt mich nie zu Wort kommen – es ist beinahe, als könne er mich nicht hören. Und dieser merkwürdige Ort, an den er mich gestern Nacht geführt hat, sah doch aus, als habe ihn keiner mehr betreten, seit …
Seit …
Zweihundert Jahren . Mein Verstand zwingt mich, den Gedanken zu beenden.
»Er hat mich nie berührt«,
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