Der Kuß der Schlange
natürlich, bloß nicht für mich.«
Howard hatte das gerahmte Foto betrachtet, und nun fragte er, ob es Rosemary darstellte.
»Ja, das ist meine Rosemary.« Eileen war noch ganz außer Atem von ihrer Schmährede und japste nach Luft. »Das ist vor sechs Monaten aufgenommen worden.«
Wexford und Howard betrachteten das Porträt eines ziemlich nichtssagenden Mädchens mit groben Gesichtszügen, das ein kleines goldenes Kreuz um den Hals trug, dem das glatte, dunkle Haar bis auf die Schultern fiel und das eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit seiner Großmutter väterlicherseits besaß. Wexford, der es nicht schaffte, rundheraus zu lügen und zu sagen, das Mädchen sei hübsch, fragte, was sie denn wohl machen werde, wenn sie die Schule hinter sich hätte? Das war ein geschickter Schachzug, denn es hatte eine beruhigende Wirkung auf Eileen, deren Zorn, wenn auch nur vorübergehend, vom Stolz abgelöst wurde.
»Die geht aufs College. All ihre Lehrer sagen, sie hat das Zeug dazu, und ich will ihr da nicht im Weg stehen. Sie muß ja auch nicht mit dem Lernen aufhören, um Geld zu verdienen. Bob hat jetzt ja ‘ne Menge übrig. Ich hab ihr schon gesagt, ich habe nichts dagegen, wenn sie mit ihrer Ausbildung weitermacht, bis sie fünfundzwanzig ist. Ich krieg Bobs Mutter auch soweit, daß sie ihm sagt, er soll Rosemary zum achtzehnten Geburtstag ein Auto schenken. Schließlich ist das heutzutage ja so, als wenn man einundzwanzig wird, oder? Mein Bruder hat ihr schon das Fahren beigebracht, und sowie sie siebzehn ist, macht sie ihre Fahrprüfung. Es ist seine Pflicht, ihr einen Wagen zu schenken. Wenn er schon mein Leben ruiniert hat, so ist das noch lange kein Grund, auch ihrs zu ruinieren, oder?«
Wexford hielt ihr die Hand hin, als sie sich verabschiedeten. Sie gab ihm ihre sehr zögernd, aber dieses Zögern war vielleicht nur ein wesentlicher Bestandteil eben jener Unbeholfenheit, die der gesamten Sippe der Hathalls anzuhaften schien. Er hielt ihre Hand gerade lange genug, um festzustellen, daß auf der relevanten Fingerkuppe keine Narbe war.
»Seien wir dankbar für unsere Frauen«, meinte Howard inbrünstig, als sie wieder im Wagen saßen und südwärts fuhren. »Jedenfalls hat er Angela nicht umgebracht, um zu der zurückzukehren.«
»Ist dir aufgefallen, daß sie Angelas Tod mit keinem Wort erwähnt hat? Nicht mal, um zu sagen, es täte ihr nicht leid, daß sie tot ist? Mir ist wirklich noch nie eine Familie begegnet, die derartig von Haß zerfressen ist.« Wexford mußte plötzlich an seine eigenen zwei Töchter denken, die ihn liebten und für deren Ausbildung er gern und bereitwillig Geld ausgegeben hatte, weil sie ihn liebten und weil er sie liebte. »Es muß verdammt scheußlich sein, jemanden unterhalten zu müssen, den man haßt, und Geschenke für jemanden kaufen zu müssen, dem beigebracht worden ist, einen zu hassen«, sagte er.
»Allerdings. Und woher stammt das Geld für diese Geschenke und für die angebotene Urlaubsreise, Reg? Doch nicht von den fünfzehn Pfund wöchentlich.«
Gegen Viertel vor zwölf waren sie in Toxborough. Wexford war für halb eins in Kidds Fabrik verabredet, also nahmen sie in einem kleinen Restaurant am Stadtrand ein schnelles Mittagessen zu sich, ehe sie sich auf die Suche nach dem Industrieviertel machten. Die Fabrik, ein großer, weißer Betonklotz, war die Quelle jenes Kinderspielzeuges, das er oft in den Werbespots des Fernsehens gesehen hatte und das unter dem Slogan ›Kidds Kits for Kids‹ angepriesen wurde. Der Manager, ein Mr. Aveney, berichtete ihm, sie hätten dreihundert Arbeiter auf der Gehaltsliste, die meisten davon Frauen in Teilzeitarbeit. Das Betriebsleitungsteam sei klein, bestehe nur aus ihm selbst, dem Personalchef, dem Teilzeit-Buchhalter, Hathalls Nachfolger, seiner eigenen Sekretärin, zwei Schreibkräften und einem Mädchen in der Telefonzentrale.
»Sie wollen wissen, was für weibliche Büroangestellte wir hier hatten, während Mr. Hathall bei uns war? So habe ich Sie am Telefon jedenfalls verstanden, und ich habe mein Bestes getan, Ihnen eine Liste mit Namen und Adressen aufzustellen. Aber dieses ewige Kommen und Gehen bei denen ist schon beinahe lächerlich, Chief Inspector. Die Mädchen sind heutzutage geradezu versessen darauf, alle paar Monate ihre Stellung zu wechseln. Von den Büroangestellten, die während Mr. Hathalls Zeit hier waren, ist jetzt niemand mehr da, und dabei ist er doch erst seit zehn Wochen weg. Jedenfalls, was die
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