Der Kuß der Schlange
London zu bleiben.
»Aber du – kommst du allein zurecht?«
»Ich komm schon zurecht. Ich hoffe, du auch. Ich persönlich fürchte bloß, du wirst hier zugrunde gehen in der Kälte dieser entsetzlichen Klimaanlage.«
»Ich habe mein Fettgewebe, Liebling, das hält mich warm.«
»Im Gegensatz zu dir, Onkel Reg«, sagte Denise, die beim Eintreten den letzen Satz mitgehört hatte. »Deins ist ganz wunderbar geschmolzen. Ich nehme doch an, das kommt wirklich bloß von der Diät? Ich habe nämlich neulich in einem Buch gelesen, daß Männer, die andauernd Liebesaffären haben, ihre Figur halten, weil ein Mann jedesmal unbewußt die Bauchmuskeln einzieht, wenn er einer neuen Frau den Hof macht.«
»Jetzt wissen wir also, woran wir sind«, meinte Dora.
Aber Wexford, der in diesem Moment die seinen bewußt eingezogen hatte, reagierte nicht mit Erröten, wie er es noch am Tag zuvor getan hätte. Er überlegte angestrengt, was von dieser Vorladung beim Chief Constable zu halten war, und seine Vermutung war nicht angenehm.
10
Das Haus, das Robert Hathall zur Zeit seiner ersten Ehe gekauft hatte, war eine jener Doppelhaushälften, die während der dreißiger Jahre zu Tausenden, vielmehr zu Zehntausenden aus dem Boden geschossen waren. Es hatte ein Erkerfenster am vorderen Wohnzimmer, einen Giebel über dem vorderen Schlafzimmer, und über der Haustür saß ein dekoratives, hölzernes Vordach, wie man es manchmal als Wetterschutz über den Perrons ländlicher Bahnhöfe sieht. Es standen an die vierhundert völlig gleicher Häuser in der Straße, einer breiten Verkehrsader, auf der der Verkehr nach Süden strömte.
»Dieses Haus«, schätzte Howard, »ist für ungefähr sechshundert Pfund erbaut worden. Hathall wird an die viertausend dafür gezahlt haben, denke ich. Wann hat er geheiratet?«
»Vor siebzehn Jahren.«
»Dann kommt es hin mit viertausend. Und jetzt würde es achtzehn bringen.«
»Bloß, er kann es nicht verkaufen«, meinte Wexford. »Ich bin überzeugt, er könnte achtzehntausend Pfund gut gebrauchen.« Sie stiegen aus dem Wagen und gingen zur Haustür.
Äußerlich hatte sie keinerlei Anzeichen einer Xanthippe. Sie war um die Vierzig, klein und von lebhaften Farben, denn ihre untersetzte, pummelige Figur war in ein enges, grünes Kleid gezwängt. Sie war eine der Frauen, die sich aus Rosen in Kohl verwandeln. Versteckte Spuren der Rose geisterten noch in den hübschen, verfetteten Zügen, auf der noch immer schönen Haut und auf dem rötlichen Haar, das einmal blond gewesen war. Sie führte sie in das Zimmer mit dem Erkerfenster. Der Einrichtung hier fehlte der Charme des Mobiliars von Bury Cottage, aber es war ebenso peinlich sauber. Es lag etwas Bedrückendes in dieser Untadeligkeit, in dem Fehlen jeglicher auch nur andeutungsweise unkonventionellen Zutat. Wexford hielt vergebens Ausschau nach irgendeinem Gegenstand, einem handgestickten Kissen vielleicht, einer Originalzeichnung oder einer Grünpflanze, in dem sich die Persönlichkeit der Frau und des Mädchens ausdrückte, die hier wohnten. Aber es gab rein gar nichts, kein Buch, nicht einmal eine Illustrierte, keinerlei Anzeichen eines persönlichen Hobbys. Es sah aus wie die Schaufensterausstellung eines Möbelhauses, bevor der Dekorateur jenen Touch hinzufügt, der dem Ganzen eine wohnliche Atmosphäre verleiht. Außer einem gerahmten Foto war das einzige Bild jene Reproduktion einer spanischen Zigeunerin mit schwarzem Hut auf den Locken und einer Rose zwischen den Zähnen, die Wexford schon hundertmal an der Wand eines Pubs gesehen hatte. Und selbst noch dieses stereotype Bild hatte mehr Leben in sich als der ganze Rest des Zimmers, und der Mund der Zigeunerin schien ein wenig abschätzig verzogen, während sie auf die sterile Umgebung herabblickte, in die das Schicksal sie verbannt hatte.
Obwohl es schon fortgeschrittener Vormittag und Eileen Hathall auf ihr Kommen vorbereitet war, bot sie ihnen nichts zu trinken an. Entweder hatte die Art ihrer Schwiegermutter auf sie abgefärbt, oder aber ihre von Natur aus fehlende Gastlichkeit war just eine der Eigenschaften, die sie der alten Frau so lieb gemacht hatten. Aber daß Mrs. Hathall senior sich in anderer Hinsicht in ihrer Schwiegertochter geirrt hatte, sollte sich bald zeigen. Weit entfernt nämlich, sich ›für sich zu halten‹, war Eileen durchaus bereit, sich in aller Bitterkeit über ihr Privatleben zu verbreiten.
Anfangs war sie noch reserviert. Wexford fragte sie als erstes, wie sie
Weitere Kostenlose Bücher