Der Kuß der Schlange
Mädchen betrifft. Der Personalchef ist ja schon seit fünf Jahren bei uns, aber sein Büro ist unten im Werk, und ich glaube, die beiden sind sich nie begegnet.«
»Können Sie sich erinnern, ob er mit irgendeinem der Mädchen besonders befreundet war?«
»Ich kann mich sehr wohl erinnern, daß er das nicht war«, sagte Mr. Aveney. »Er war bloß verrückt nach seiner eigenen Frau, der, die jetzt ums Leben gekommen ist. Ich habe noch nie einen Mann erlebt, der so ein Affentheater um eine Frau machte wie er. Für ihn war sie Marilyn Monroe, Kaiserin von Persien und die Jungfrau Maria in einer Person.«
Aber Wexford war es leid, von Robert Hathalls Gattenliebe zu hören. Er überflog die Liste. Sie war erschreckend lang, Namen über Namen, alle von der Art, wie sie sie heute anscheinend samt und sonders hatten, Junes und Janes und Susans und Lindas und Julies. Alle hatten sie in oder um Toxborough herum gewohnt, und nicht eine von ihnen war länger als ein halbes Jahr bei Kidds geblieben. Die dumpfe Vorahnung wochenlanger Kleinarbeit befiel ihn. Entsetzlicher Gedanke, daß ein halbes Dutzend Männer die umliegenden Grafschaften nach dieser oder jener Jane oder Julie oder Susan durchfilzen müßte … Er steckte die Liste in seine Aktentasche.
»Ihr Freund hat gesagt, er wolle sich gern einmal das Werk ansehen. Wenn Sie nichts dagegen haben, gehen wir doch hinunter und suchen ihn.«
Sie fanden Howard in der Obhut einer Julie, die ihn zwischen Werkbänken hindurchführte, an denen Frauen in Overalls und mit Tüchern um den Kopf die Gußformen von Plastikpuppen ablösten. Die Fabrik war luftig und angenehm, abgesehen von dem Geruch nach Zellulose, und aus verschiedenen Lautsprechern tönte die verführerische Stimme von Engelbert Humperdinck, der seine Zuhörerinnen beschwor, ihn freizugeben und aufs neue lieben zu lassen.
»Ziemlich überflüssige Aktion, das«, meinte Wexford, als sie Mr. Aveney auf Wiedersehen gesagt hatten. »Das hatte ich mir gleich gedacht. Immerhin, du kommst jedenfalls zeitig zu deiner Dinnerverabredung. Es ist bloß ungefähr eine halbe Stunde von hier bis Kingsmarkham. Und ich bin zeitig zur Stelle, um mir glühende Kohlen aufs Haupt laden zu lassen. Soll ich dich mal über Schleichwege hintenrum lotsen? Dann umgehen wir den Verkehr, und ich kann dir ein oder zwei interessante Punkte zeigen.«
Howard war einverstanden, und sein Onkel dirigierte ihn zur Myringham Road. Sie fuhren durch das Zentrum der Stadt und vorbei an jenem Einkaufszentrum, dessen Häßlichkeit Mark Somerset so beleidigte und wo er die Hathalls bei ihrem Einkaufsbummel getroffen hatte.
»Orientiere dich jetzt mal lieber an den Schildern nach Pomfret als an denen nach Kingsmarkham, ich lotse dich dann durch die Wool Lane nach Kingsmarkham hinein.«
Gehorsam folgte Howard den Hinweisschildern, und bereits nach zehn Minuten fuhren sie über schmale Landstraßen. Hier war noch unverschandelte Landschaft, das liebliche Sussex mit seinen welligen, von Baumgruppen gekrönten Hügeln, mit seinen ausgedehnten Nadelwäldern und den kleinen Bauerngehöften unter braunen Dächern, die sich in waldige Mulden schmiegten. Die Ernte war eingebracht, und wo der Weizen gemäht war, leuchteten die Felder blaßblond, schimmerten in der Sonne wie silbriges Blattgold.
»Wenn ich hier draußen bin«, meinte Howard, »dann empfinde ich immer, wie recht Orwell hat, wenn er sagt, jeder Mensch wisse im Grunde seines Herzens, daß es das Zauberhafteste auf der Welt ist, einen schönen Tag auf dem Lande zu verbringen. Wenn ich dagegen in London bin, dann gebe ich wieder Charles Lamb recht.«
»Du meinst, daß es erfreulicher sei, eine Menschenmenge vor dem Theater zu sehen als all die Herden blöder Schafe auf den Epson Downs?«
Howard lachte und nickte. »Ich nehme an, in diese Abzweigung da mit dem Hinweisschild Sewingbury soll ich nicht einbiegen?«
»Wir nehmen nach Kingsmarkham eine Abzweigung nach rechts, die nach einem guten Kilometer kommt. Das ist eine kleine Seitenstraße, die nach einer Weile in die Wool Lane mündet. Ich glaube, Angela muß letzten Freitag mit ihrem Passagier im Wagen dort entlang gefahren sein. Aber woher kam sie?«
Howard nahm die Abzweigung. Sie fuhren an der Wool Farm vorüber und sahen das Schild Wool Lane an der Stelle, wo sich die Straße zu einem schmalen Tunnel verengte. Wären sie einem anderen Wagen begegnet, so hätte dessen Fahrer oder Howard seitlich auf die ansteigende Böschung ausweichen
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