Der Kuß der Schlange
müssen, um den anderen vorbeifahren zu lassen, aber sie begegneten keinem anderen Wagen. Die Autofahrer mieden den schmalen, gefährlichen Weg, und Fremde hielten ihn meistens gar nicht für eine Durchfahrt.
»Bury Cottage«, erklärte Wexford.
Howard fuhr ein wenig langsamer. Gerade in diesem Augenblick kam Robert Hathall, eine Gartenschere in der Hand, seitlich um das Haus herum. Er blickte nicht auf, sondern begann die Heidekraut-Astern zu beschneiden. Wexford fragte sich, ob seine nörgelnde Mutter ihn wohl zu dieser ungewohnten Arbeit getrieben hatte.
»Das ist er«, sagte er. »Hast du ihn gesehen?«
»Gut genug, um ihn wiederzuerkennen«, meinte Howard, »obwohl das wohl nie notwendig sein wird.«
Sie trennten sich am Polizeipräsidium. Der Rover des Chief Constable stand bereits auf dem Vorplatz. Er war zu ihrer Unterredung zeitig gekommen, aber Wexford ebenfalls. So brauchte er wenigstens nicht atemlos und zerknirscht hinaufzuhasten, er konnte sich Zeit lassen und geradezu gemächlich dorthin spazieren, wo der ausgerollte Teppich und die glühenden Kohlen seiner harrten.
»Ich kann mir schon denken, worum es geht, Sir. Hathall hat sich beschwert.«
»Wenn Sie es sich schon denken können«, sagte Charles Griswold, »um so schlimmer.« Er runzelte die Stirn und reckte sich zu seiner vollen Größe auf, die Wexfords eigene eins fünfundneunzig noch um einiges überstieg. Der Chief Constable hatte verblüffende Ähnlichkeit mit dem verstorbenen General de Gaulle – mit dem er ja auch die Initialen gemein hatte –, und er mußte sich dessen bewußt sein. Für die körperliche Ähnlichkeit mit einem berühmten Mann kann eine Laune der Natur verantwortlich sein, nur das Bewußtsein solcher Ähnlichkeit jedoch und ihre häufige Erwähnung durch Freunde und Feinde kann zur Angleichung der Persönlichkeit an die des anderen führen. Griswold jedenfalls hatte die Gewohnheit, von Mid-Sussex, seinem Gebiet, in fast dem gleichen Ton zu sprechen, wie der tote Staatsmann von ›La France‹ gesprochen hatte. »Er hat mir einen sehr scharf formulierten Beschwerdebrief geschrieben. Er schreibt, Sie hätten versucht, ihm Fallen zu stellen, unter Anwendung höchst unorthodoxer Methoden. Sie hätten ihm irgendwas über einen Fingerabdruck an den Kopf geworfen und waren dann aus dem Haus gegangen, ohne seine Antwort abzuwarten. Haben Sie irgendwelche Gründe zu der Annahme, daß er seine Frau umgebracht hat?«
»Nicht mit den eigenen Händen, Sir. Er war zu der Zeit in London in seinem Büro.«
»Und worauf, verdammt noch mal, wollen Sie dann hinaus? Ich bin stolz auf Mid-Sussex. Ich habe Mid-Sussex meine Lebensarbeit gewidmet. Ich war immer stolz auf die Rechtschaffenheit meiner Beamten in Mid-Sussex, überzeugt, daß ihr Verhalten nicht nur über jeden Tadel erhaben wäre, sondern auch deutlich sichtbar über jeden Tadel erhaben.« Griswold seufzte schwer. Als nächstes, dachte Wexford, würde er sagen: › L’état, c’est moi.‹ »Warum belästigen Sie diesen Mann? Er selbst spricht sogar von Verfolgung.«
»Verfolgung nennt er es immer«, wandte Wexford ein.
»Was soll das heißen?«
»Daß er paranoid ist, Sir.«
»Kommen Sie mir nicht mit diesem Klapsdoktorjargon, Reg. Haben Sie ein einziges konkretes Beweismittel gegen diesen Burschen in der Hand?«
»Nein. Bloß mein felsenfestes, persönliches Gefühl, daß er seine Frau umgebracht hat.«
»Gefühl? Gefühl? Von Gefühlen ist heutzutage wirklich mehr als zuviel die Rede, und Sie in Ihrem Alter sollten es verdammt noch mal besser wissen. Was glauben Sie denn? Daß er einen Komplizen hatte? Und haben Sie vielleicht auch ein Gefühl, wer dieser Komplize sein könnte? Haben Sie über den Beweismaterial?«
Was konnte er anderes sagen als: »Nein, Sir, das habe ich nicht.« Sehr viel bestimmter fügte er hinzu: »Kann ich den Brief mal sehen?«
»Nein, das können Sie nicht«, fauchte Griswold. »Ich habe Ihnen ja gesagt, was drinsteht. Seien Sie froh, daß ich Ihnen seine wenig schmeichelhaften Bemerkungen über Ihr Auftreten und Ihre Taktik vorenthalte. Er schreibt übrigens, Sie hätten ihm ein Buch gestohlen.«
»Um Himmels willen … das glauben Sie doch nicht?«
»Also – nein, Reg, das glaube ich nicht. Aber schicken Sie es ihm zurück, und zwar schnell. Und lassen Sie die Finger von ihm, ist das klar?«
»Die Finger von ihm lassen?« fragte Wexford entgeistert. »Ich muß mit ihm sprechen. Es gibt sonst keine Ermittlungsspur, die man
Weitere Kostenlose Bücher