Der Kuß der Schlange
den vergangenen Freitag verbracht hätte, und sie antwortete in ruhigem, vernünftigem Tonfall, sie sei bei ihrem Vater in Balham gewesen und bis zum Abend dort geblieben, denn ihre Tochter hätte an einem von ihrer Schule finanzierten Tagesausflug nach Frankreich teilgenommen, von dem sie erst so gegen Mitternacht zurückgekommen sei. Sie nannte Wexford die Adresse ihres verwitweten Vaters, und Howard, der London gut kannte, meinte, das sei ja nur eine Straße von der Wohnung der alten Mrs. Hathall entfernt. Und da ging es los: Eileens Gesicht rötete sich, und in ihren Augen glomm der Haß auf, der jetzt vielleicht zum Hauptantrieb ihres Lebens geworden war.
»Wir sind doch zusammen aufgewachsen, Bob und ich. Wir gingen in dieselbe Schule, und es gab keinen Tag, an dem wir uns nicht gesehen haben. Und nachdem wir geheiratet hatten, waren wir nie auch nur eine einzige Nacht getrennt, bis dieses Weibsbild kam und ihn mir gestohlen hat.«
Wexford, der der Meinung war, daß es für einen Außenseiter unmöglich sei, in eine gute und glückliche Ehe einzubrechen, gab keinen Kommentar. Er hatte sich schon oft genug über eine Geisteshaltung gewundert, die Menschen als Gegenstände betrachtete und Ehepartner als Objekte, die gestohlen werden konnten wie Fernseher oder Perlenketten.
»Wann haben Sie Ihren früheren Mann das letzte Mal gesehen?«
»Ich habe ihn seit dreieinhalb Jahren nicht mehr gesehen.«
»Aber ich nehme doch an, obwohl Sie das Sorgerecht haben, besucht er sie regelmäßig?«
Ihr Gesicht war bitter geworden, ein Wurm nagte an der verblühten Rose. »Er hatte das Recht, sie jeden zweiten Sonntag zu sehen. Ich schickte sie dann immer zu seiner Mutter, und er holte sie dort ab und verbrachte den Tag mit ihr.«
»Aber Sie selbst sahen ihn bei diesen Gelegenheiten nicht?«
Sie blickte zu Boden, vielleicht, um ihre Kränkung zu verbergen. »Er hat gesagt, er würde nicht kommen, wenn ich dort wäre.«
»Sie sagten, ›ich schickte sie immer‹, Mrs. Hathall. Heißt das, diese Begegnungen zwischen Vater und Tochter haben aufgehört?«
»Na ja, sie ist schließlich fast erwachsen, nicht wahr? Sie ist alt genug, eine eigene Meinung zu haben. Ich und Bobs Mutter, wir sind immer gut miteinander ausgekommen, sie ist immer wie eine zweite Mutter für mich gewesen. Rosemary merkte ja, wie wir darüber dachten – ich meine, sie war alt genug, um zu verstehen, was mir ihr Vater angetan hat, und es ist doch nur natürlich, daß sie wütend auf ihn war.« Das zänkische Weib kam zum Vorschein, und mit ihm jene Stimme, von der Mr. Butler gesagt hatte, er werde sie immer im Gedächtnis behalten. »Jawohl, sie stellte sich gegen ihn. Sie fand gemein, was er getan hatte!«
»Sie traf sich also nicht mehr mit ihm?«
»Sie wollte ihn nicht mehr sehen. Sie sagte, sie hätte an ihren Sonntagen etwas Besseres zu tun, und ihre Omi und ich, wir fanden, da hätte sie ganz recht. Bloß einmal war sie da draußen in diesem Haus, und als sie wiederkam, war sie in einem entsetzlichen Zustand – Tränen und Schluchzen und was sonst noch alles. Und das wundert mich auch nicht. Können Sie sich einen Vater vorstellen, der allen Ernstes seine kleine Tochter zusehen läßt, wie er eine andere Frau küßt? Das ist tatsächlich passiert. Als es Zeit wurde, Rosemary nach Hause zu bringen, da sah sie, wie er die Arme um diese Frau legte und sie küßte. Und das war nicht etwa so ein gewöhnlicher Kuß. Nein, so, wie man es im Fernsehen sieht, hat Rosemary gesagt. Aber ich will nicht ins Detail gehen, obwohl ich außer mir war, das kann ich Ihnen sagen. Das Ende vom Lied war, daß Rosemary ihren Vater nicht mehr ausstehen konnte, und ich nahm ihr das nicht übel. Ich hoffe bloß, sie hat keinen seelischen Knacks gekriegt, so wie es diese Leute, diese Psychologen, immer behaupten.«
Ihre Haut hatte sich dunkelrot verfärbt, und ihre Augen flammten. Und jetzt, wie sie so mit wogendem Busen den Kopf zurückwarf, hatte sie etwas mit der Zigeunerin an der Wand gemein.
»Ihm gefiel das natürlich nicht. Er bettelte, sie solle sich doch mit ihm treffen, schrieb ihr Briefe und Gott weiß was alles. Schickte ihr Geschenke und wollte mit ihr in den Urlaub fahren. Ausgerechnet er, wo er doch immer behauptet hat, er hätte keinen Pfennig übrig. Mit Händen und Füßen hat er sich dagegen gewehrt, daß ich dieses Haus kriegte und ein bißchen von seinem Geld zum Leben. Oh, der hat genug Geld, wenn er welches ausgeben will, für alle anderen
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