Der Kuß der Schlange
festzunageln, ehe er das Land verließ, alles hing nun einzig und allein davon ab, daß man einen Nachweis für jenen Betrug erbrachte. Die Teilchen des Puzzles zusammenzufügen und sich ein Bild von seiner Schimäre zu machen, das konnte warten, bis es zu spät war, bis Hathall verschwunden war. Eine schöne Beschäftigung, dachte er bitter, für die langen Abende des neuen Jahres. Und als er am Mittwoch morgen immer noch nichts von Lovat gehört hatte, da fuhr er nach Myringham, um ihn in seinem Büro zu erwischen. Gegen zehn war er dort und erfuhr, Mr. Lovat sei bei einer Gerichtsverhandlung und werde nicht vor Mittag zurückerwartet.
Wexford bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmassen im Einkaufszentrum von Myringham, stieg Betontreppen hinauf, fuhr mit Rolltreppen auf- und abwärts – der ganze Komplex war vollgehängt mit blinkenden Lichterketten in Form von gelben und roten Märchenblumen – und schlug sich bis zum Bezirksgericht durch. Die Publikumstribüne war nahezu leer. Er schob sich auf einen Sitz, blickte sich nach Lovat um und entdeckte ihn ganz vorn, dicht unter dem Richtersitz.
Ein bleichgesichtiger, schlaksiger Mann von etwa dreißig Jahren saß auf der Anklagebank – nach den Worten des Anwalts, der für ihn auftrat, ein gewisser Richard George Grey, ohne festen Wohnsitz. Ach, der Ehemann von Morag. Kein Wunder, daß Lovat so angespannt dreinblickte. Aber Wexford brauchte nicht lange, um mitzukriegen, daß die Ladendiebstahlsanzeige gegen Grey auf sehr wackeligen Indizien basierte. Die Polizei strebte augenscheinlich eine Haftstrafe an, aber es sah nicht so aus, als ob sie die kriegen würden. Greys Anwalt, jugendlich beredt und forsch, tat sein Bestes für seinen Klienten, und Lovats Mundwinkel zogen sich während seines Plädoyers immer weiter nach unten. Voll inniger Schadenfreude hoffte Wexford, Grey möge davonkommen. Warum sollte Lovat das Glück haben, seinen Mann so lange festzuhalten, bis er genügend Indizien beisammen hatte, um ihn des Mordes an seiner Frau anklagen zu können?
»Und so werden Sie sicherlich berücksichtigen, Euer Ehren, daß mein Klient geradezu von einer Pechserie verfolgt wurde. Obgleich er nicht verpflichtet ist, Ihnen irgendwelche Vorstrafen offen darzulegen, möchte er genau das tun, in der sicheren Annahme, daß Sie seine einzige Verfehlung als trivial einstufen werden. Und worin besteht nun diese seine einzige Vorstrafe? Darin, Euer Ehren, daß man ihm Bewährungsfrist zubilligte, nachdem er im zarten Alter von siebzehn Jahren in fremden, geschlossenen Räumen ertappt wurde.«
Wexford rutschte zur Seite, um für zwei ältere Frauen mit Einkaufstaschen Platz zu machen. Mit lüsternem Gesichtsausdruck machten sie es sich bequem. Diese Unterhaltung, dachte er, war nicht nur kostenlos und allmorgendlich, sie war auch mitten aus dem Alltag des Lebens gegriffen, drei Vorzüge, die sie dem Kino voraus hatte. Er genoß geradezu Lovats Verdruß, während er den Ausführungen des Anwalts lauschte.
»Abgesehen davon aber – worin manifestieren sich denn seine sogenannten ›kriminellen Neigungen‹? Oh, es ist wahr, als er mittellos und ohne Dach über dem Kopf dastand, da sah er sich gezwungen, in einem verfallenen Haus Zuflucht zu suchen, für das sein rechtmäßiger Eigentümer keine Verwendung mehr hatte, ein Haus, das als ›für Wohnzwecke ungeeignet‹ eingestuft war. Aber das ist, wie Euer Ehren wissen werden, kein Verbrechen. Es ist laut einem seit sechshundert Jahren bestehenden Gesetz nicht einmal ein Vergehen. Es ist auch richtig, daß er von seinem früheren Arbeitgeber entlassen wurde, weil er sich – wie er offen zugibt, obgleich keine Anklage erhoben wurde – von diesem Arbeitgeber die geringfügige Summe von zwei Pfund fünfzig angeeignet hatte. Als Folge davon wurde er gezwungen, seine Wohnung, beziehungsweise seine Dienstwohnung in Maynnot Hall, Toxborough, zu verlassen, und als noch gravierendere Folge davon wurde er von seiner Frau verlassen mit der Begründung, sie weigere sich, mit einem Mann zusammenzuleben, dessen Ehrbarkeit nicht über jeden Zweifel erhaben sei. Diese Dame, deren derzeitige Lebensumstände nicht bekannt sind und deren Fortgehen meinem Klienten tiefen Kummer bereitete, hat einiges gemeinsam mit dem Vorgehen der Polizei von Myringham – nämlich, auf einen Menschen einzuschlagen, der am Boden liegt …«
In diesem Ton ging es weiter. Wexford hätte es weniger langweilig gefunden, wenn er mehr konkretes Beweismaterial
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