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Der Kuß der Schlange

Der Kuß der Schlange

Titel: Der Kuß der Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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gebracht hätte statt dieser Larifari-Verteidigung. Aber die Indizien mußten tatsächlich dünn gewesen sein und Greys Identifizierung ungewiß, denn die Richter erschienen bereits nach drei Minuten wieder und stellten das Verfahren ein. Lovat stand voller Entrüstung auf, und auch Wexford erhob sich, um ihm zu folgen. Seine ältlichen Nachbarinnen räumten nur widerwillig ihre Einkaufstaschen aus dem Weg. Draußen vor dem Gericht staute, sich eine Menschenmenge, eine Ansammlung von Zeugen, die zu einem Prozeß wegen schwerer Körperverletzung erschienen waren. Als er sich endlich mit einiger Mühe hindurchgedrängt hatte, da fuhr Lovat gerade in seinem Wagen davon, und zwar nicht in Richtung Polizeipräsidium.
    Nun gut, er befand sich fast zwanzig Kilometer nördlich von Kingsmarkham, also zwanzig Kilometer näher an London. Warum diese Kilometer vergeuden? Warum nicht weiterfahren nach Norden, zu einem letzten Gespräch mit Eileen Hathall? Schlimmer als jetzt konnte es ja sowieso nicht werden, höchstens besser. Und wie wäre ihm wohl zumute, wenn sie ihm erzählte, daß Hathalls Emigration sich verzögere, daß er noch ein, zwei Wochen länger in London bliebe?
    Als er durch Toxborough kam und sein Weg ihn durch den Maynnot Way führte, da blitzte in seinem Hinterkopf eine Erinnerung auf. Richard und Morag Grey hatten hier einmal gewohnt, waren wahrscheinlich Bedienstete in Maynnot Hall gewesen – aber das war es nicht. Trotzdem hatte es etwas zu tun mit dem, was der junge Anwalt gesagt hatte. Konzentriert ließ er den Fall in Gedanken Revue passieren, diese Gegend hier, die für ihn gleichsam zu Hathalls Land geworden war, zu einer Landschaft mit Figuren. So viele Orte, so viele Figuren … Von all den Personen, denen er darin begegnet war oder von denen er gehört hatte, war eine von jenem Anwalt in seinem dramatischen Plädoyer vor dem Gericht erwähnt worden. Aber außer Grey war doch niemand namentlich genannt worden … O doch, seine Frau. Die vermißte Frau, genauer gesagt. »Verlassen von seiner Frau mit der Begründung, sie weigere sich, mit einem Mann zusammenzuleben, dessen Ehrbarkeit nicht über jeden Zweifel erhaben sei.« Aber woran erinnerte ihn das? Weit entfernt in Hathalls Land, vor einem Jahr vielleicht, oder vor Monaten oder Wochen, hatte irgendwo irgendwer ihm irgendwas von einer Frau mit einer so übertriebenen Ehrpusseligkeit erzählt. Das Dumme war bloß, er hatte nicht mehr die leiseste Ahnung, wer dieser Jemand gewesen war.
    Keine Anstrengung des Gehirns war vonnöten, um Eileen Hathalls Mittagsgast zu identifizieren. Wexford hatte die alte Mrs. Hathall seit fünfzehn Monaten nicht mehr gesehen, und er war ein bißchen entsetzt, sie hier anzutreffen. Die Exfrau würde dem Exmann wohl nichts von seinem Besuch erzählen, die Mutter jedoch würde es dem Sohn sehr wahrscheinlich berichten. Aber egal, das spielte auch keine Rolle mehr. In fünf Tagen verließ Hathall das Land, und ein Mann, der seine Heimat für immer verließ, hatte keine Zeit für kleinliche Racheakte und unnötige Vorsichtsmaßregeln.
    Glücklicherweise schien aber Mrs. Hathall, die am Tisch saß und ihre Tasse Tee nach dem Essen trank, den Zweck seines Besuchs zu verkennen. Dieser lästige Polizist war doch damals schon mal in einem Haus aufgetaucht, als sie anwesend war ; und nun tauchte er hier in diesem Haus auf, und wieder war sie anwesend. Die vorigen Male hatte er auch immer nach ihrem Sohn gefragt, also … »Hier treffen Sie ihn nicht an«, erklärte sie in ihrem barschen Tonfall mit dem unverkennbaren Akzent des Nordens. »Der ist mit Packen beschäftigt, weil er doch nach Übersee geht.«
    Eileen erklärte auf seinen fragenden Blick: »Er war gestern abend hier, um sich zu verabschieden.« Ihre Stimme klang ruhig, beinahe selbstzufrieden. Und wie Wexford abwechselnd beide Frauen anblickte, wurde ihm klar, was mit ihnen geschehen war. Solange Hathall in der Nähe war, hatte er ständig Anlaß zur Verbitterung gegeben. Die Mutter mußte an ihm herumnörgeln, die Exfrau hatte mit bösartigen Ausfällen reagiert. Ein Hathall, der fort war, so weit weg, daß er ebensogut tot sein konnte, würde ihnen Ruhe bescheren. Eileen hätte dann fast den Status einer Witwe, und die alte Frau hätte künftig eine höchst respektable Erklärung zur Hand, weshalb sich ihr Sohn und ihre Schwiegertochter getrennt hätten – nämlich wegen der weiteren Ausbildung der Enkelin in England.
    »Er fährt Montag?« fragte er.
    Die alte

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