Der Kuß der Schlange
gedacht, sie wäre zu ihrer Mutter gegangen, und ihre Mutter dachte, sie sei sonstwo, aber sie hat auf die Briefe ihrer Mutter nicht geantwortet. Grey ist vorbestraft, lebt vielleicht mit einer anderen Frau zusammen, hat einen Haufen Lügen erzählt … Hab ich recht?«
»Ja.«
Wexford fand, er habe seine Pflicht getan. Es war ein Jammer, daß er so wenig über Dachse wußte und daß er daran noch weniger interessiert war als an dem Fall Grey. Der eisige Nebel kroch ihm durch die Kleider ins Rückenmark und ließ ihn am ganzen Körper frösteln. »Lovat«, sagte er, »tun Sie mir einen Gefallen?«
Die meisten Leute, denen man eine solche Frage stellt, antworten, es käme darauf an, was für ein Gefallen das sei. Aber Lovat besaß Tugenden, die seine Wortkargheit aufwogen. Er zog eine neue zerknitterte Zigarette aus seinem feuchten, zerknitterten Päckchen. »Ja«, sagte er einfach.
»Sie wissen doch von diesem Burschen, diesem Hathall, hinter dem ich her bin? Ich glaube, der hat die Lohnlisten gefälscht, während er bei Kidds in Toxborough gearbeitet hat. Deshalb war ich auch neulich dort, als wir uns begegnet sind. Aber mir sind die Hände gebunden. Ich bin verdammt sicher, daß es folgendermaßen gelaufen ist…« Und Wexford erzählte ihm, wie es seiner Überzeugung nach gelaufen sein mußte. »Können Sie nicht jemanden rumschicken in diese Sparkassenfilialen und mal sehen, ob Sie dabei irgendwelche falschen Konten aufstöbern können? Und das schnell, ich hab nämlich bloß noch zehn Tage.«
Lovat fragte nicht, warum er bloß noch zehn Tage hätte. Er putzte seine Brille, die vom Nebel beschlagen war, und setzte sie sich wieder auf die rote Stupsnase. Ohne Wexford anzusehen oder auch nur das geringste Interesse zu bekunden, heftete er seinen Blick auf die Männer und sagte bloß: »Auf die eine oder andere Weise hatte ich in meinem Leben immer irgendwie mit Graben zu tun.«
Wexford gab keine Antwort. Im Augenblick konnte er wenig Begeisterung für ein Plädoyer für eine Liga zur Bekämpfung grausamer Sportarten aufbringen. Er wiederholte auch seine Bitte nicht, das hätte Lovat höchstens verärgert, also saß er stumm in dem kalten Dunst und lauschte dem Geräusch, das die Schaufeln machten, wenn sie auf Mörtelbrocken stießen, auf das sanfte Plumpsen, wenn die ausgehobene Erde schwer zur Seite fiel. Konservendosen und aufgeweichte Kartons flogen auf die wachsenden Haufen, es folgten ausgerissene Rosenbüsche, an deren skorpionartigen Wurzeln feuchte Erdballen hafteten. Lag da unten eine Leiche? Jeden Augenblick konnten die Schaufeln statt eines alten Mörtelbrockens oder eines Büschels braunen Wurzelwerks eine weiße, faulende menschliche Hand freilegen.
Der Nebel über dem fast unbewegten Wasser wurde dicker und dicker. Lovat warf seinen Zigarettenstummel in eine von Öl überzogene Pfütze. »Mach ich«, sagte er.
Es war eine Erlösung, dem Fluß und seinen feuchten Dünsten zu entkommen – diesem Miasma, das man früher für die Keimzelle von Krankheiten gehalten hatte – und den eleganteren Teil der Altstadt zu erreichen, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Er wischte gerade seine beschlagene Windschutzscheibe ab, da sah er Nancy Lake. Und er hätte sich gewiß gefragt, was sie hier zu suchen hatte, wäre sie nicht im nächsten Augenblick in eine kleine Bäckerei getreten, die für ihr Brot und Gebäck berühmt war. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, und der innere Aufruhr, den sie bei ihm damals ausgelöst hatte, war schon fast vergessen – dieses Atemstocken, dieses leise Herzflackern. Aber jetzt spürte er es wieder, als er die Glastür hinter ihr zufallen sah und das warme, orange Licht des Ladens sie umfing.
Obgleich er fröstelte und sein Atem in der Kälte weiße Schleier bildete, wartete er am Bordstein auf sie. Und als sie herauskam, belohnte sie ihn mit dem ihr eigenen strahlenden Lächeln. »Mr. Wexford! Hier sind zwar überall Polizisten, aber sie hier zu sehen, das hätte ich nicht erwartet.«
»Ich bin doch auch ein Polizist. Soll ich Sie nach Kingsmarkham mitnehmen?«
»Vielen Dank, aber ich möchte jetzt noch gar nicht zurück.« Sie trug einen Chinchillamantel, auf dem feinste Wassertröpfchen schimmerten. Die Kälte, unter der andere Gesichter förmlich schrumpften, ließ ihres rosig aufblühen und ihre Augen glänzen. »Aber ich komme und setze mich für fünf Minuten zu Ihnen in den Wagen, darf ich?«
Wexford wünschte sich eine
Weitere Kostenlose Bücher