Der Kuß der Schlange
der Haltestelle einsteigen, die ihrer Wohnung am nächsten gelegen ist, stimmt’s? Und wenn ich die erst mal rausgefunden hab, dann kann ich am nächsten Abend von halb sechs an dort warten. Wenn er mit dem Bus kommt, kann ich ihn verfolgen, wenn er mit der U-Bahn kommt, wird es schon schwieriger, aber es besteht doch immer noch eine gute Chance.«
Kilburn Park, Great Western Road, Pembridge Road, Church Street … Wexford seufzte. »Es gibt doch Dutzende von Haltestellen«, sagte er.
»Nicht in Notting Hill, mein Lieber. Und erinnere dich, es muß Notting Hill sein. Der letzte Achtundzwanziger kreuzt Notting Hill Gate um zehn vor elf. Morgen abend warte ich also in der Church Street auf ihn. Ich hab doch noch sechs Wochentagsabende, Reg, sechs ganze Überwachungsabende bis Weihnachten.«
»Du kriegst die Brust vom Truthahn«, sagte sein Onkel, »und das Fünfzigpencestück aus dem Pudding.«
Als er den Hörer auflegte, klingelte die Haustürglocke, und er hörte die dünnen, piepsigen Stimmen kindlicher Weihnachtssänger.
God rest you merry, Gentlemen.
Let nothing you dismay …
18
Der Montag der Vorweihnachtswoche verstrich, und der Dienstag kam, und keine Silbe von Lovat. Höchstwahrscheinlich war er viel zu beschäftigt mit dem Fall Morag Grey, um sonst viel zu unternehmen. Ihre Leiche war noch nicht gefunden worden, und ihr Ehemann, seit einer Woche in Untersuchungshaft, mußte demnächst erneut vor Gericht erscheinen, einzig aufgrund der Anklage wegen Ladendiebstahl. Am Dienstag nachmittag rief Wexford das Polizeipräsidium Myringham an. Es sei Mr. Lovats freier Tag, erklärte Sergeant Hutton ihm, aber zu Hause sei er auch nicht zu erreichen, denn er nähme an der Tagung der Gesellschaft der Freunde des britischen Dachses teil.
Auch von Howard kein Wort. Es war nicht ehrfürchtige Scheu, die Wexford davon abhielt, ihn anzurufen. Er konnte einfach nicht jemanden dauernd belästigen, der ihm den enormen Gefallen tat, all seine Freizeit zu opfern, um die Obsession seines Onkels zu befriedigen, um dessen Schimäre nachzujagen. Nein, er konnte ihn nur machen lassen und ergeben abwarten. Schimäre: Ungeheuer, Popanz, Hirngespinst, so definierte das Lexikon sie, stellte Wexford fest, als er in der Abgeschiedenheit seines Büros das Wort nachschlug. Hirngespinst …? Hathall selbst war zwar aus Fleisch und Blut, aber die Frau? Lediglich Howard hatte sie bisher gesehen, und auch Howard war zu beschwören nicht bereit, daß Hathall – das Ungeheuer, der Bösewicht – wirklich ihr Begleiter gewesen war. »Und nie sollt ihr verzagen«, beschwor Wexford sich selbst. Irgend jemand hatte schließlich den Handabdruck gemacht, irgend jemand hatte die spröden, dunklen Haare auf Angelas Schlafzimmerboden hinterlassen.
Und selbst wenn seine Chancen, sie festzunehmen, mittlerweile sehr klein waren, kleiner wurden mit jedem Tag, der verging, so wollte er doch immer noch wissen, wie es geschehen war, einfach um die immer noch bestehenden Wissenslücken zu füllen. Er wollte wissen, wo Hathall sie kennengelernt hatte. Auf der Straße, in einem Pub, wie Howard vermutete? Oder war sie ursprünglich eine Freundin von Angela gewesen, in jenen frühen Londoner Zeiten, bevor Hathall auf der Party in Finchley seiner zweiten Frau vorgestellt wurde? Bestimmt aber mußte sie in der Umgebung von Toxborough oder Myringham gewohnt haben, wenn sie die Aufgabe gehabt hatte, Geldbeträge von den gewissen Konten abzuheben. Oder hatten sie und Angela sich diese Aufgabe geteilt? Hathall hatte bei Kidds nur eine Teilzeitstellung gehabt. An seinen freien Tagen konnte Angela den Wagen benutzt haben, um zu kassieren.
Dann war da auch noch dieses Buch über die keltischen Sprachen, auch so ein merkwürdiges ›Beweisstück‹ des Falles, das er noch gar nicht weiter in Betracht gezogen hatte. Keltische Sprachen besaßen zwar einen gewissen Zusammenhang mit Archäologie, aber Angela hatte keinerlei Interesse daran gezeigt, während sie in der Bibliothek der National Archaeologists’ League arbeitete. Wenn das Buch aber bedeutungslos war, weshalb war Hathall dann so aufgeregt gewesen, als er es in seinen, Wexfords Händen gesehen hatte?
Aber was immer er auch an Schlußfolgerungen aus dem hartnäckigen Nachdenken über diese Fakten ableitete, aus dem sorgfältigen Auflisten scheinbar zusammenhangloser Informationsbruchstücke, in der Hoffnung, eine Verbindung zu entdecken und damit die Möglichkeit – das Wichtigste von allem! –, Hathall
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