Der Kuß der Schlange
Standheizung im Auto, aber sie schien die Kälte nicht zu spüren. Sie neigte sich zu ihm mit der Lebhaftigkeit und der Vitalität einer jungen Frau. »Wollen wir uns ein Stück Sahnekuchen teilen?«
Er schüttelte den Kopf. »Schlecht für meine Figur.«
»Aber Sie haben eine wundervolle Figur!«
Wohl wissend, daß er es besser nicht täte, daß es die Aufforderung zu einem neuen Flirt bedeutete, blickte er in diese leuchtenden Augen und erwiderte: »Sie sagen dauernd Sachen zu mir, die seit Ewigkeiten keine Frau mehr zu mir gesagt hat.«
Sie lachte. »Doch nicht dauernd. Wie kann es denn ›dauernd‹ sein, wenn ich Sie nie sehe?« Sie fing an, den Kuchen zu essen. Es war eine Sorte Kuchen, an die kein Mensch sich ohne Teller, Gabel und Serviette heranwagen würde. Sie schaffte es mit den bloßen Fingern bemerkenswert gut, ihre kleine rote Zunge leckte Schlagsahnereste von den Lippen. »Ich hab mein altes Haus verkauft«, erzählte sie. »Am Tag vor Heiligabend zieh ich aus.«
Am Tag vor Heiligabend … »Es heißt, Sie gingen nach Übersee?«
»Ach ja? Die Leute reden seit zwanzig Jahren so viele Sachen über mich, und das meiste davon stimmte einfach nicht. Heißt es auch, daß sich mein Traum endlich erfüllt hat?« Sie war fertig mit dem Kuchen und leckte sich genüßlich die Finger ab. »Jetzt muß ich aber gehen. Irgendwann einmal – oh, das scheint mir Jahre her zu sein – habe ich Sie zu mir zum Tee eingeladen.«
»Ja«, bestätigte er.
»Wollen Sie kommen? Sagen wir – nächsten Freitag?« Als er nickte, fügte sie hinzu: »Dann essen wir die letzte Mirakelmarmelade.«
»Ich wollte, Sie würden mir mal erklären, warum Sie die so nennen.«
»Mach ich, mach ich …« Er hielt ihr die Wagentür auf, und sie nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte. »Ich werde Ihnen die Geschichte meines Lebens erzählen. Nichts soll verschwiegen werden. Also – bis Freitag dann.«
»Bis Freitag.« Es war wirklich absurd, dieses Gefühl, diese Aufregung. Du bist alt, redete er sich ins Gewissen, sie will dir Pflaumenmarmelade zum Probieren geben und dir die Geschichte ihres Lebens erzählen, und das ist auch alles, wozu du noch taugst. Und er blickte ihr nach, wie sie davonging, bis ihr grauer Pelz mit dem Flußnebel verschmolz und verschwunden war.
»Ich kann ihn in der U-Bahn nicht verfolgen, Reg. Ich hab’s dreimal versucht, aber die Menschenmassen werden immer dichter bei dem Weihnachtsrummel.«
»Kann ich mir vorstellen«, meinte Wexford, der am liebsten das Wort ›Weihnachten‹ nie wieder hören wollte. Niemals in der Vergangenheit war ihm der festliche Druck der Adventszeit so stark bewußt geworden wie diesmal. War Weihnachten dieses Jahr weihnachtlicher als gewöhnlich? Oder lag es einfach daran, daß ihm jede Weihnachtskarte, die auf seine Fußmatte fiel, jedes Anzeichen kommender Festlichkeit als Vorboten drohenden Versagens erschienen? Es steckte eine bittere Ironie in der Tatsache, daß sie in diesem Jahr mehr Gäste im Haus haben würden als jemals zuvor – seine beiden Töchter, seinen Schwiegersohn, seine beiden Enkel, Howard und Denise, Burden und seine Kinder. Und Dora hatte sogar schon begonnen, die Dekorationen anzubringen. Er mußte sich in seinem Stuhl zusammenkauern, das Telefon auf den Knien, damit ihm nicht der große Stechpalmenwedel, der über seinem Schreibtisch hing, ins Gesicht piekte. »Tja, das war’s dann wohl, was?« sagte er. »Gib auf, mach Schluß damit. Vielleicht kommt bei der Sache mit den Lohnlisten irgendwas raus. Das ist meine letzte Hoffnung.«
Howards Stimme klang entrüstet. »Ich denke doch nicht ans Aufgeben. Ich meinte bloß, daß ich es so nicht machen kann.«
»Welche Möglichkeit gibt es denn sonst?«
»Warum sollte ich nicht mal versuchen, ihm vom anderen Ende her nachzuspionieren?«
»Vom anderen Ende?«
»Als mir Hathall gestern abend in der U-Bahn durch die Lappen ging, fuhr ich zur Dartmeet Avenue rüber. Sieh mal, ich habe mir gesagt, daß er vielleicht hin und wieder die ganze Nacht über bei ihr bleibt, aber nicht jedesmal. Sonst könnte er sich ja die eigene Wohnung sparen. Und letzte Nacht ist er auch nicht bei ihr geblieben, Reg. Er kam mit dem letzten Achtundzwanziger-Bus nach Hause. Also dachte ich mir, warum sollte ich eigentlich nicht ebenfalls mal in diesen letzten Bus steigen?«
»Ich scheine auf meine alten Tage zu verblöden«, meinte Wexford, »aber ich kapiere nicht, was das uns nützen soll.«
»Paß auf: Er wird doch an
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