Der Kuss des Anubis
betäubende Geruchswolken ihn stets schon von Weitem ankündigten.
»Das alles gab es bei Hof zu lernen«, hatte sie einmal lächelnd gesagt, als Miu sie nach ihrem Geheimnis gefragt hatte. »Und zwar ziemlich schnell, wenn man seinen Verstand einigermaßen beieinanderhatte. Dort war es lebensnotwendig, sich eine zweite Haut zuzulegen, sonst wäre man über kurz oder lang zugrunde gegangen.«
Jetzt redete sie wieder von der Sonnenstadt, die ein ganzes Stück nilabwärts lag und in der seit Langem niemand mehr wohnte. Papa wurde schon ungehalten, wenn man das Wort nur in den Mund nahm, und daher ließ sie es in seiner Gegenwart lieber blieben. Dabei erschien Miu alles, was damit zu tun hatte, wie eines von Raias Märchen, von denen sie früher nicht genug bekommen konnte. Sie hatte jedes Wort davon in sich aufgesogen, so lange, bis diese Geschichten ein Teil von ihr geworden waren.
Miu ließ sich auf einem der niedrigen Hocker nieder, streckte die Beine aus und genoss die Kühle der glasierten Fliesen auf ihrer Haut.
»Nun, mein Mädchen?«, hörte sie Großmama sagen. Sie
hatte eine außergewöhnliche Stimme, kräftig und weich zugleich, die auch für große Räume taugte.
Miu begann zu erzählen, stockend zunächst und mit zahlreichen Pausen, doch allmählich begannen ihre Worte zu fließen. Sie gab sich Mühe, so nah wie möglich bei ihren Beobachtungen zu bleiben, fügte nichts hinzu und ließ auch nichts aus. Als sie bei ihrem zweiten Besuch auf dem Markt und der Attacke des Schlangenbeschwörers angelangt war, spürte sie, wie der alten Frau schier der Atem stockte.
»Du warst mutig, Miu«, sagte sie schließlich, ohne sie bis dahin auch nur ein einziges Mal unterbrochen zu haben. »Aber leider auch sehr unvorsichtig, was sich oftmals als äußerst unheilvolle Kombination erweisen kann. Als Erstes musst du mir versprechen, in Zukunft die Hände von solch hirnrissigen Unternehmungen zu lassen.«
»Aber der Pharao«, rief Miu. »Er ist doch in Gefahr! Glaubst du mir denn wenigstens?«
»Wir werden uns um eine Audienz bei Hof bemühen müssen.« Raias feingliedrige Hände unterstrichen jedes ihrer Worte. »Daran führt kein Weg vorbei.«
»Bei Hof? Hier in Waset? Aber wie sollen wir denn da jemals vorgelassen werden?«, sagte Miu. Begann Großmama nicht gerade, etwas zu vermischen, was nicht zusammenpasste - die Geschichten über die versunkene Sonnenstadt und das, was sich ganz real abspielte?
»Das lass nur meine Sorge sein. Es gibt da gewisse alte Verbindungen …« Ihr Blick glitt zum Fenster.
»Du kennst jemanden am hiesigen Königshof?« Miu kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Wen? Und wieso hast du noch nie davon erzählt?«
»Es sind die Mütter, die den Ausschlag geben«, erwiderte Großmama leise. »Sie ziehen im Hintergrund die Fäden, auch wenn es nach außen vielleicht anders aussehen mag. Das solltest du dir merken, mein Mädchen. Denn es könnte eines Tages sehr wichtig für dich werden.«
Diese Worte, so sanft sie auch ausgesprochen waren, trafen Miu wie ein Hieb in die Magengrube. Und bevor sie noch recht wusste, wie ihr geschah, liefen ihr bereits Tränen über die Wangen.
ZWEITES KAPITEL
B ei jeder Bewegung spürte Miu das leichte Gewicht der Keramikperlen auf ihrem Brustkorb und den Widerstand des steifen Leinens, das gegen Brust und Schenkel rieb. Zum Glück hatte Raia darauf verzichtet, dass sie eine Perücke tragen musste, was bei der Hitze schier unerträglich gewesen wäre.
»Dafür bist du noch ein ganzes Stück zu jung - und ich bereits zu alt.« Ihr Lachen war ungewohnt schrill gewesen. »Sie werden uns auch so empfangen, das ist gewiss.«
Was machte sie nur derart sicher?
In den vergangenen Tagen hatte Miu immer wieder versucht, weiter in Großmama zu dringen, doch je neugieriger ihre Fragen ausfielen, desto weniger wollte diese preisgeben. Das schloss auch die Boten mit ein, die zu den seltsamsten Zeiten das Haus mit neuen Nachrichten betraten und wieder verließen, so lange, bis Raia endlich halbwegs zufrieden schien.
»Warte einfach ab, Miu, dann wirst du schon sehen, was geschieht. Aber lass uns bis dahin keine Zeit verlieren!«
Es traf sich günstig, dass ihr Vater Ramose mit zweien seiner Gehilfen gerade jetzt nach Abju* hatte aufbrechen müssen, um in der Stadt des Gottes Osiris* die Vorräte an
Zedernöl, Weihrauch und Harzen aufzufüllen, ohne die seine Werkstatt nicht auskam. Natürlich hätte er sich auch mit dem hiesigen Warenangebot begnügen
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