Der Kuss des Anubis
befahl Großmama. »Solchen Menschen, die Manieren wie ein Baumstumpf haben, wirst du leider immer wieder begegnen. Denk lieber an das, was ich dir eingeschärft habe, und pass beim Aussteigen auf dein Kleid auf!«
Als ob sie dazu eigens angehalten werden müsste!
Das Kleid saß so eng, dass sie ohnehin nur winzige Schritte machen konnte, und ohne die Hilfe des Ruderers, der ihr die Hand reichte und sie auf den Steg hinüberzog, hätte sie womöglich auf der Fähre zurückbleiben müssen.
»Sind wir nicht schon viel zu spät?«, murmelte Miu, als sie Raia nachtippelte, die ein erstaunlich zügiges Tempo angeschlagen hatte.
»Wir sind genau richtig. Vorausgesetzt, du hörst endlich auf, hinter mir herzuwatscheln wie eine fußlahme Ente.«
Die Mauer, die das riesige Palastareal umgab, erschien Miu höher als bei ihrem letzten Besuch, ein uneinnehmbares Bollwerk, das jeden ausschloss, der nicht hierher gehörte - vor allem Leute wie sie. Plötzlich wünschte sie sich, sie hätte den Mund gehalten. Nein, besser noch, sie hätte von Anfang an auf Papa hören und Taheb erst gar nicht heimlich besuchen sollen, dann wäre ihr all das jetzt erspart geblieben: der Kloß im Hals, der harte Klumpen im Magen, die unsicheren Beine, die sich bei jedem Schritt zittriger anfühlten.
»Aber doch nicht hier«, protestierte sie matt, als Großmama zielstrebig das Haupttor ansteuerte. »Wollen wir nicht lieber dort drüben …«
»Wir sind schließlich keine Bettler, sondern kommen mit einer wichtigen Nachricht für den Pharao, möge er leben, heil und gesund sein! Und jetzt halte dich gerade, mein Mädchen. Zum Umkehren ist es ohnehin zu spät.«
Sie hatte tatsächlich an das Tor geschlagen!
Miu hörte nicht genau, was der Mann der Palastwache fragte, der ihnen schließlich öffnete, dazu war das Rauschen in ihren Ohren inzwischen viel zu laut. Und auch
Großmamas Antwort bekam sie nur als leichte Luftbewegung mit, so aufgeregt schlug ihr Herz. Was auch immer es gewesen sein mochte - sie wurden tatsächlich eingelassen, passierten das mächtige Tor und fanden sich jenseits der Mauer wieder.
»Wartet hier!« Der Wächter eilte davon, ein anderer blieb neben ihnen stehen, die Hand am Dolch, als befürchte er im nächsten Augenblick Übles.
Jetzt hätte Miu am liebsten nach Raias schützender Hand gegriffen, so verloren fühlte sie sich auf einmal. Sie kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden, und schluckte die aufsteigende Enttäuschung hinunter.
Von wegen riesiger Park mit exotischen Pflanzen!
Alles gelb, grau und leblos. Was vor ihnen im strahlenden Sonnenlicht lag, musste der Hauptflügel des Palastes sein, zur Überraschung des Mädchens allerdings nicht aus Stein erbaut wie der große Tempel in Waset, sondern aus getrockneten Nilziegeln errichtet wie ihr eigenes Haus, wenngleich ungleich höher und viel, viel größer. Südlich und nördlich davon sah sie andere mehrstöckige Gebäude, hinter denen immer neue Bauwerke auftauchten. Eine ganze Stadt, ja, so kam es Miu vor, bereits zur Regierungszeit des königlichen Großvaters als Sommerwohnsitz für den nun lebenden Sohn der Götter erbaut …
Schwere Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. Jetzt umstellte sie ein ganzer Trupp bewaffneter Männer - die Leibgarde des Pharaos, wie Raia ihr zuflüsterte.
»Die Amme des Königs erwartet euch?«, bellte der diensthabende Offizier und es klang alles andere als freundlich.
»So ist es.« Raia nickte leicht. »Mayet, die den Horus*
im Nest nährte, hat sich persönlich für unsere Audienz eingesetzt.«
»Beweise es!«
Großmama tippte auf die silberne Spange. »Ein Geschenk, das die Königsamme mir vor vielen Jahren gemacht hat. Sie trägt die gleiche Spange an ihrem Arm.«
»Metall ist geduldig. Das Passwort!«
»Der Kleine in der Küchengrube.« Sie rezitierte den seltsamen Satz so klar und selbstverständlich wie einen kunstvollen Vers.
»Das ist richtig!«, rief plötzlich eine fremde Stimme.
Bevor der Offizier noch etwas entgegnen konnte, hatte ihn schon eine Frau energisch zur Seite geschoben. Sie war klein und füllig, mit üppigen Hüften, die sich unter dem dünnen Kleiderstoff abzeichneten. Ihr pausbäckiges Gesicht strahlte vor Freude.
»Raia!«, rief sie. »Dass ich dich endlich wiedersehe! Und das Mädchen neben dir muss Miu sein. Wie ähnlich sie ihrer Mutter geworden ist!« Ihr Tonfall veränderte sich, wurde geradezu hochfahrend, als sie sich nun an die Leibgardisten wandte. »Wieso
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