Der Kuss des Anubis
empfehlen«, hörte Miu ihn sagen, die heimlich an der angelehnten Tür lauschte. »Lang genug gekocht, entsteht so ein Sirup, der deine Beschwerden schnell lindern wird.«
Er ließ eine längere Pause folgen.
»Doch wir beide wissen, dass die Ursache deines Leidens anderswo sitzt.« Sachte tippte er gegen Raias Brustkorb. »Nämlich hier. In deinem Herzen. Habe ich recht?«
Sie gab einen krächzenden Ton von sich.
»Dachte ich mir! Du trägst ein Geheimnis mit dir herum, das dir die Brust eng macht und alle Luft aus den Lungen fegt«, fuhr er fort. »Dein Herz ist schwarz und schwer vor Kummer. Wenn du nicht bereit bist, zu offenbaren, was dich so quält, wird es dich über kurz oder lang von innen her ersticken.«
Was Großmama darauf antwortete, konnte Miu nicht mehr hören, denn die Tür fiel plötzlich wie von Geisterhand zu und sperrte ihre neugierigen Ohren aus. Offenbar schien die Medizin des Sunus aber zu wirken, denn das Fieber sank, und der hartnäckige Husten begann, sich zu lösen.
Freilich hatte die Krankheit Großmama bleich und hohlwangig werden lassen, und selbst heute, in ihrem schönsten Festtagskleid, wirkte sie weniger strahlend als sonst. Keiner aus der Familie verlor auch nur ein Wort darüber, dass sie erst heute, am letzten Festtag, an den allgemeinen Feiern teilnehmen konnten. Raia bemühte sich tapfer, zu überspielen, wie anstrengend es für sie war, lange auf den Beinen zu bleiben; Miu jedoch ließ sich davon ebenso wenig blenden wie Ani, der gekommen war, um sie abzuholen.
»Wir nehmen einfach einen Klapphocker mit«, sagte er. »Dann kannst du unterwegs ausruhen, wann immer du willst! Miu wird dafür sorgen, dass du gut sitzt, wenn ich wieder zum Dienst zurückmuss.«
»Als ob ich ein uraltes Weiblein wäre …«
Doch Raias Protest verhallte ungehört, und nach Kurzem schien sie sogar froh darüber, dass der junge Polizist sich mit seinem Vorschlag durchgesetzt hatte, denn die Menschenmasse, die sich am Ufer zurück in Richtung Karnak* wälzte, war enorm. Der Wasserstand der Nilschwemme belief sich auf gute sechzehn Ellen - das hatte es seit mehr als einem Dutzend Jahren nicht mehr gegeben! Bald schon würde das Wasser abfließen und den fruchtbaren Schlick freigeben, in dem die neue Ernte sprießen konnte.
Kemet war gesegnet. Kemet war reich.
Und der junge Pharao genoss ganz offensichtlich die Gunst der Götter.
Ramose, der seit Tagen einsilbig und in sich gekehrt war, hatten sie unterwegs schon bald verloren, und es kostete Miu Anstrengung, sich zwischen all den vielen Armen und Beinen durchzukämpfen, um für Großmama und ihr mobiles Sitzmöbel ein einigermaßen ruhiges Plätzchen am Rand des Geschehens zu finden.
»Geht es wieder?« Anis Gesicht wirkte angespannt. »Wäre es nicht klüger, ich brächte dich nach Hause, Raia, und Miu gleich mit dazu? Bald werden die Leute hier betrunken herumtorkeln, dann wäret ihr beide an einem ruhigen, sicheren Ort besser aufgehoben!«
»Aber doch nicht, bevor ich die Barken gesehen habe!«, protestierte Raia. »Ein langes Jahr habe ich mich auf diesen Anblick gefreut. Und sieh nur, wie gut unser Platz ist! Niemand versperrt uns hier die Sicht.«
Da kamen sie bereits näher, drei große goldene Barken, die die Stauen der Götter Amun* und Mut sowie ihres gemeinsamen Sohnes Chons* trugen. Als viertes Gefährt
folgte ihnen die Barke des Pharaos, ein Anblick, der Mius Kehle eng machte.
»Ich bleibe hier«, sagte sie knapp. »Auf jeden Fall.«
War Opet nicht ein altes Wort für Harim und bedeutete »Frauenhaus«? Wurde nicht gerade gefeiert, dass Amun sich mit seiner Gemahlin Mut im Tempel vereinigte? Und vor allem - war Tutanchamun nicht Pharao und Gott in einer Person?
Und lautete ihr vollständiger Name nicht Mut-inihrer-Barke?
»Wie ihr wollt. Dann bleibt ihr beide eben hier«, sagte Ani und sah Miu dabei so zwingend an, dass ihr leicht beklommen zumute wurde. »Ich kann mich doch auf dich verlassen, Miu? Du kümmerst dich um Raia?«
»Natürlich«, sagte sie schnell und hoffte, er möge endlich verschwinden, damit sie sich ganz der vierten Barke widmen konnte.
Doch als Ani gegangen war, fühlte sie sich plötzlich verloren. Immer mehr Menschen begannen, sich um sie zu scharen, und der Duft nach gebratenem Rindfleisch, das überall an provisorischen Ständen angeboten wurde, schwängerte die Luft. Raia hielt es nicht länger auf dem Klappstuhl, der ihr lediglich eingeschränkte Sicht ermöglichte.
Ungeduldig erhob sie
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