Der Kuss des Anubis
sein.«
Ani verstand sofort. Welch günstige Gelegenheit, sich auch jenseits der Kontrollstelle unauffällig umzusehen!
»Ja, Imeni hat recht!«, rief er. »Überlass das Schleppen ruhig mir. Dann wird es dir schnell wieder besser gehen.«
Es gelang ihm, Iset an der Schlange der Wartenden vorbeizuschleusen, obwohl sie sich dabei einige missbilligende Blicke einhandelten. Doch der ältere Polizist an der Kontrollstelle lächelte verständnisvoll, als er die blaue Schärpe der Flusspolizei erkannte.
»Eine Verwandte?«, sagte er, während er Isets Korb und Taschen gründlich durchsuchte. »Und du stehst ihr zur Seite?«
»So ungefähr«, erwiderte Ani möglichst wahrheitsgemäß. »Sie hatte gerade einen kleinen Schwächeanfall und sollte sich ausruhen. Deshalb springe ich kurz als Träger ein.«
»Das war kein Schwächeanfall«, sagte Iset, kaum waren sie auf der anderen Seite der Mauer angelangt. »Ich bin schwanger, nicht krank. Und du bist der Erste, der es erfährt.«
»Sag bloß, dein Mann weiß noch nichts davon!«
Isets große Augen wurden feucht. »Ich bin nicht einmal sicher, ob es Kenamun wirklich interessieren würde!«
»Aber was redest du da!« Ani war mitten auf der engen Gasse stehen geblieben. Zwei Frauen mit großen Körben drängten an ihm vorbei. Musterten sie ihn argwöhnisch oder bildete er sich das bloß ein? »Du musst es ihm sagen, so schnell wie möglich.«
»Genau darin liegt unser Problem.« Iset klang finster. »Denn dazu müsste ich ihn ja erst einmal zu Gesicht bekommen.«
Sie begann, so schnell loszulaufen, dass er ihr mit all den Lasten kaum folgen konnte. Vor einem Haus, das ein blaues Udjat-Auge zierte, saß eine kleine, dunkel gestromte Katze. Kaum hatte sie Iset erblickt, kam sie angerannt und rieb sich maunzend an ihren Beinen.
»Keku!« Sie bückte sich und hob den kleinen Kater hoch. »Hast du schon auf mich gewartet?«
»Ist das nicht Mius Kater?«, sagte Ani, nachdem er drinnen endlich seine Taschen losgeworden war. Jetzt gab es eigentlich keinen Grund, noch länger zu bleiben - doch seine Spürnase war längst erwacht.
»Jetzt gehört er mir«, sagte Iset. »Miu hat ihn mir geschenkt, damit ich nicht immer so allein bin.« Ihre Augen glänzten schon wieder verdächtig. Vielleicht hatte sie das junge Tier versehentlich zu fest an sich gedrückt, denn Keku begann, sich auf einmal derart heftig in ihren Armen zu winden, dass sie ihn loslassen musste, wenn sie keine tiefen Kratzer riskieren wollte.
»Sein rotes Brüderchen wohnt jetzt im Palast.« Nun war es Anis Stimme, die sich verändert hatte und plötzlich brüchig klang. »Und er will nichts mehr von einfachen Leuten wissen, weil er sich ja der Zuneigung des Pharaos sicher wähnt. Das weiß ich von Raia. Manchen Zweibeinern scheint es so ähnlich zu gehen.«
»Das macht dich traurig?«, sagte Iset sanft. »Das musst du nicht sein, Ani! Miu ist alles andere als eine Idiotin. Die weiß schon, wohin sie gehört.«
»Auch wenn sie blind verliebt ist?«, fragte Ani mit einem bitteren Unterton.
»Auch dann.« Iset nickte bekräftigend. »Gib ihr einfach ein bisschen Zeit.« Unwillkürlich hatten sich ihre Hände auf den Bauch gelegt, als wollten sie das ungeborene Leben schützen, das darin wuchs.
»Und du?«, sagte er. »Was stellen wir jetzt mit Kenamun und dir an? So wie bisher kann es doch nicht weitergehen!«
»Wenn ich das nur wüsste!« Ihr Seufzer kam von Herzen. »Irgendetwas bedrückt ihn, aber er verliert kein einziges Wort darüber. Zuerst dachte ich sogar, es ginge um eine andere Frau, doch davon hat Miu mich zum Glück abgebracht. Es muss etwas anderes sein, etwas, das ihn so schwermütig macht, dass es ihm regelrecht die Sprache
verschlagen hat. Ich erkenne meinen freundlichen, stets zu Späßen aufgelegten Liebsten kaum wieder!«
Ihr Blick hatte etwas Bittendes bekommen.
»Und wenn vielleicht du mal mit ihm sprichst?«, fuhr Iset fort. »Du bist ein Mann. Vielleicht ist es leichter für Kenamun, sich dir zu öffnen.«
»Das will ich gern versuchen«, sagte Ani nach kurzem Zögern. »Aber wo finde ich ihn? Nachts muss ich Wache stehen und tagsüber versuchen, meinen Schlaf halbwegs nachzuholen.«
»Am günstigsten wäre es wohl nachmittags«, sagte Iset. »Ich kann dir den kürzesten Weg aufzeichnen, wenn du willst, von hier aus bis ins Tal der Könige, wo sie an den Gräbern arbeiten. Allerdings liegt ein scharfer Anstieg dazwischen. Mit jeder Menge Geröll.« Verstohlen lugte sie zu
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