Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
einmal dein Gesicht abwischen, bevor du wieder unter Menschen gehst«, riet er und hielt ihr ein frisches Geschirrhandtuch hin.
Hastig nahm sie es ihm ab und ging sofort wieder auf Distanz. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, trocknete sie ihre Wangen. Rötliche Flecken blieben auf dem Stoff zurück. Sie hatte sich das Blut nicht eingebildet. Nichts hatte sie sich eingebildet. »Lass mich hier raus!«
»Du verzichtest also darauf, den Namen zu hören, den dir dein neuer Freund ohnehin schon genannt hat?«
»Ja. Lass mich einfach gehen. Ich habe nichts mehr mit dir zu schaffen.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt.«
Wut mischte sich in ihre Furcht. »Glaubst du etwa, du könntest weiterhin so tun, als seiest du Rafe? Nachdem ich das gesehen habe?«
Er lächelte. »Die menschliche Psyche ist das seltsamste Wesen von allen, chérie. Jetzt bist du aufgebracht und willst unbedingt weg. Aber in ein paar Stunden wirst du dich fragen, ob das alles so passiert ist. In einigen Tagen werden die Eindrücke so verblasst sein, dass du sie bei meinem Anblick nicht mehr glauben kannst. Deine Liebe dagegen …« Er tat nichts Sichtbares, und doch hatte sie plötzlich Rafes Duft in der Nase, spürte eine zarte Berührung im Nacken, einen warmen Hauch auf ihrer Haut. »Wenn ich lange genug werbe, verzehrst du dich wieder nach dem Mann, der diese Gefühle in dir weckt.«
Sie zitterte, weil sie ahnte, dass er die Wahrheit sagte. »Hör auf!«, schrie sie, empört über ihre eigenen verräterischen Gefühle. »Was willst du von mir?«
»Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.«
»Niemals!« Und wenn sie Paris verlassen und bis ans Ende der Welt vor ihm fliehen musste. »Eher springe ich doch noch von der Pont de la Tournelle!«
Überrascht hörte sie erneut das Schloss klicken und griff rasch nach dem Knauf. Ebenso schnell blockierte er die Tür noch einmal mit Schulter und Fuß. Sie versuchte, seinem Blick auszuweichen, doch es gelang ihr nicht.
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht nicht freiwillig so bin?«
S chweißgebadet stand Sophie auf der Leiter, obwohl sie gerade erst angefangen hatte zu streichen. Dieser Kittel würde sie in der Hitze noch umbringen. Was tat sie hier eigentlich? Sie ließ die Rolle sinken und starrte auf die glänzenden weißen Sprenkel an der Wand, wo ihr schon wieder die Farbe ausgegangen war. Das hat doch alles keinen Sinn. Nichts hat mehr einen Sinn.
Als sie unter der sengenden Sonne aus der Rue Thouin geflohen war, hatte es noch wie eine gute Idee gewirkt, sich mit Arbeit davon abzulenken, was geschehen war. Niemanden sehen, mit niemandem reden, nur weg, sich verkriechen, nicht mehr daran denken. Doch Letzteres klappte am wenigsten von allem.
Auf noch immer zittrigen Beinen balancierte sie die Leiter hinunter, die Rolle in der einen, den Henkel des schweren Farbeimers in der anderen Hand. Bloß nicht fallen! Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Stark bleiben, bis die drängendste Pflicht erfüllt war. Sie streifte die Rolle an einem Gitter ab, wickelte sie gegen das Austrocknen in Plastikfolie und drückte den Deckel auf den Eimer. Jetzt nur noch den furchtbaren Kittel ausziehen. Das war’s. Ende. Finito. Das Märchen vom wiedergefundenen Rafe war ausgeträumt.
Den Rücken an die Theke gelehnt, sank sie auf den von der Glut unbeeindruckt kalten Steinboden. Was hatte sie geglaubt? Warum sollte es ihr besser ergehen als anderen Frauen, deren Verlobter starb? Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Deshalb hatte sie noch lange keine solche Strafe verdient! Gab es etwas Grausameres, als den Toten wieder lebendig vor der Nase zu haben und ihn doch nicht lieben zu dürfen?
Er ist es nicht. Sie musste das endlich kapieren. Auch wenn er tausendmal so aussah, so klang, so roch, sogar die Narben der Wunden trug, die sich am Leichnam nie geschlossen hatten: Er war nicht Rafe. Er kannte sie nicht einmal, wollte nur ihre Gefühle ausnutzen. Warum durfte dieses Monster mit seinem Körper herumlaufen? Das war nicht fair!
»Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht nicht freiwillig so bin?«, hörte sie seine letzten Worte, bevor er sie durch die Tür gelassen hatte. War das so? Er konnte ihr viel erzählen, um sie zurückzugewinnen. Aber sie hatte gesehen, was er war. Die Fratze, die hinter dem geliebten Gesicht darauf wartete, hervorzubrechen. Die gefährlichen Klauen, die sich unter makellosen Männerhänden verbargen. Und am Grund der meerblauen Augen
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