Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
lauerte die alles verschlingende Schwärze der Tiefsee, die sie hinabzog. Wie konnte er glauben, dass sie das vergaß?
Vielleicht ist er ein Romantiker und hat zu oft »Die Schöne und das Biest« gesehen. Sie lachte gequält auf. Was er wirklich wollte, hatte Lara ihr am Telefon vorgelesen. Abtrünnige Engel, die Gefallen an Menschenfrauen fanden und mit ihnen noch mehr Monster zeugten … Wenn sie es nicht selbst gesehen hätte, würde sie es immer noch nicht glauben. Jean hatte ihr sogar eine Ausgabe des Buchs Henoch mitgegeben, damit sie es selbst nachlesen konnte. Ob darin auch beschrieben stand, dass es zum Ritual gehörte, die Frau um Mitternacht an einem Brunnen zu verführen? Sie griff nach oben und zog ihre Tasche vom Verkaufstisch. Da sie sie nicht ausgeräumt hatte, musste das Buch noch darin zu finden sein.
Es war nur ein dünner Band, fast ein Heftchen, wenn es keinen festen Einband besessen hätte. Warum war diese Schrift nicht in die Bibel aufgenommen worden, obwohl es diese gefallenen Engel tatsächlich gab? Entweder hatten die Kirchenväter nichts davon geahnt, oder die Entscheidung gehörte zu den Mysterien der frühen Christenheit, deren wahre Gründe über die Jahrhunderte verloren gegangen waren. Sophie blinzelte die letzten Tränen weg, schlug das Buch auf und begann zu lesen.
Zuerst glaubte sie, den falschen Text erwischt zu haben. Es ging um Auserwählte und eine Art Jüngstes Gericht, die üblichen Ermahnungen, den Zorn Gottes nicht herauszufordern, der die Sünder strafen und die Welt vernichten würde. Im Groben verstand sie die Botschaft, doch im Detail begriff sie selten, wovon die Rede war. Wer waren die Wächter? Und was hatte es mit den vierzehn Bäumen auf sich, die einige Winter lang ihr Laub nicht abwarfen? Schon bald überflog sie nur noch die Zeilen, bis ihr das Wort »Engel« ins Auge stach.
Der Übergang von der apokalyptischen Prophezeiung zu einer Erzählung aus der Vergangenheit erfolgte abrupt und ohne Erklärung: »Kapitel 7: Nachdem die Menschen sich gemehrt hatten, geschah es in jenen Tagen, dass ihnen herrliche und schöne Töchter geboren wurden. Und als die Engel, die Söhne des Himmels, ihrer ansichtig wurden, entbrannten sie in Liebe zu ihnen und sprachen zueinander: Kommt, lasst uns unter den Nachkommen der Menschen Weiber für uns wählen und lasst uns Kinder zeugen.«
Sophie hielt verwundert inne. Wie im ersten Buch Moses klang die Geschichte bis jetzt eher romantisch. Offenbar männliche Engel hatten sich in die schönen Menschenfrauen verliebt. Sie wurden weder als hässliche Dämonen noch als bösartig beschrieben. Sie las weiter. Ein Samjaza, der ihr Anführer war, fürchtete, sie könnten vor der Durchführung dieses schweren Verbrechens zurückscheuen. Ihnen war also bewusst, dass sie etwas Verbotenes taten. Aber warum war es nicht erlaubt? Der Text gab dafür keine Erklärung. Die aufsässigen Engel schworen sich gegenseitig, ihr Vorhaben durchzuziehen. Es hatte etwas von »Alle für einen, einer für alle«. Zweihundert sollten es gewesen sein, die schließlich auf einen Berg herabstiegen. Es folgte eine Aufzählung ihrer weiteren Anführer, siebzehn an der Zahl.
»Dann wählten sie sich Weiber, ein jeder von ihnen; sie begannen, sich ihnen zu nahen und wohnten ihnen bei, lehrten sie Zauberei, Beschwören und die Teilung von Wurzeln und Bäumen. Und die Weiber empfingen und gebaren Riesen …«
Die Riesen richteten allerlei Unheil an, während die Engel die Menschen auf verschiedensten Gebieten unterrichteten. Sie brachten ihnen die Schmiedekunst und die Herstellung von Schmuck ebenso bei wie Astronomie, das Deuten von Orakeln und das Schminken. Die Zusammenstellung kam Sophie seltsam vor, und zugleich erinnerte es sie an heidnische Sagen, nach denen Götter und Halbgötter die Menschen so manches Handwerk gelehrt hatten. Es hätte ein Goldenes Zeitalter sein können, wären nicht die menschenfressenden Riesen gewesen. Das Unheil kam den Erzengeln zu Ohren, die es Gott vortrugen, dem sie vorwarfen, nichts zu unternehmen. Das wird ja immer merkwürdiger. Erst auf dieses Drängen hin ordnete Gott nun an, die Welt von dieser Verderbnis zu reinigen und die Abtrünnigen zu bestrafen. Sie wurden gebunden und bis zum Tag des Gerichts weggesperrt.
Wieder begann sie, den Text nur zu überfliegen, weil sich nur Prophezeiungen einer Art neuen Paradieses auf Erden anschlossen. Sollte das alles gewesen sein? Nein. Überrascht las sie erneut genauer, denn
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