Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
abgekühlt war. Sollte er den Aufschub nutzen, um Sophie anzurufen und zu fragen, ob alles in Ordnung war? An seinem Spiegelbild auf der Fensterscheibe sah er, wie er das Gesicht verzog. Das hatte ihr sicher gerade noch gefehlt, dass er stündlich nachbohrte, ob sie es schon durchgezogen hatte.
Ein paar Minuten lang beobachtete er das Kommen und Gehen auf dem Parkplatz vor dem Hauptgebäude, bis er merkte, dass er drohte, im Stehen einzudösen. Rasch nahm er einen Schluck, der eher nach irgendeinem bitteren Medikament als nach Kaffee schmeckte, und entschied, einen neuen Anlauf in den Lift zu wagen.
Zwei Etagen darüber fand er sich auf der richtigen Station wieder und machte sich auf die Suche nach der Zimmernummer, die Lilyth ihm genannt hatte. Sohlen quietschten auf PVC-Boden, und der typische Geruch nach Desinfektionsmittel hing in der Luft. Schwestern und Pfleger eilten geschäftig den langen Flur entlang, schoben leere Betten oder trugen Infusionsbeutel und steril verpacktes Material herum. Einige musterten Jean fragend, andere lächelten freundlich. Eine ältere Besucherin neigte sogar ehrerbietig den Kopf. Offenbar hielten sie ihn für einen Geistlichen, weil niemand sonst bei dieser Hitze auf die Idee gekommen wäre, Schwarz zu tragen. Dass er die Ärmel aufgekrempelt hatte, ließ man ihm wohl als menschlich durchgehen, aber wegen des Mantels, den er mit sich herumschleppte, hielten sie ihn sicher für exzentrisch.
Als er die richtige Tür gefunden hatte, klopfte er an und wartete, bis ein leises »Ja« durch das dicke Sperrholz drang. Das Zimmer dahinter hätte drei Betten fassen können, doch es standen nur zwei darin, beide belegt. Im vorderen saß eine magere Frau in Jeans Alter, die sich kurz nach seinem Eintreten wieder einem aufgeschlagenen Buch zuwandte. Lilyth lag in dem Bett neben dem Fenster und sah auch ohne Schminke leichenblass aus. Das dunkle Haar, das sie sonst so ausgefallen frisierte, hing in Strähnen. Noch ungewohnter war jedoch, dass sie anstelle ihrer schwarzen Gothic-Kluft einen dezent karierten Kurzarm-Pyjama trug.
»Salut, Lilyth«, grüßte er im Bewusstsein, dass die Fremde im Nachbarbett im Gegensatz zu ihm wahrscheinlich ihren echten Namen kannte und sich jetzt wunderte. Er legte seinen Mantel über die Lehne eines Stuhls, bevor er sich der Kranken näherte.
»Salut, Jean«, antwortete Lilyth mit schwacher Stimme. Auch ihre Finger waren kraftlos, als sie seinen Händedruck erwiderte. In der anderen Hand steckte eine Kanüle, die sie über einen durchsichtigen Schlauch mit einer kopfüber aufgehängten Flasche verband. Beide Unterarme waren bis zu den Ellbogen mit Mullbinden umwickelt. Die Blutvergiftung, von der sie am Telefon gesprochen hatte, musste eine üblere Erkrankung sein, als ihm bewusst gewesen war. Er hatte sich aus irgendwelchen Romanen vage daran erinnert, dass in früheren Zeiten Menschen aufgrund der unhygienischen Verhältnisse daran gestorben waren, aber heutzutage …
»Du machst einen ziemlich schwachen Eindruck. Wie schlimm ist es?«
»Keine Ahnung. Dieses ganze Ärztelatein kapiert doch kein Mensch.« Sie sah ihn so vorwurfsvoll an, als sei es seine Schuld. »Ich hab eine Sepsis, Blutvergiftung haben sie es genannt, ums mir zu erklären. Meine Eltern waren voll in Panik, weil es lebensgefährlich sein soll. Deshalb war ich zuerst auch auf der Intensivstation, aber es war wohl doch nicht so übel, wie alle dachten. Sie konnten es eindämmen oder so.«
»Und wie bekommt man eine Blutvergiftung? Habt ihr wieder mit Leichen …« Er dämpfte seine Stimme, obwohl es vermutlich nichts nutzte. »… hantiert oder was?« Den verärgerten Ton konnte er nicht unterdrücken.
Matt schüttelte sie den Kopf. »Nein, das hab ich selbst geschafft.« Sie hob die Arme gerade genug an, um seine Aufmerksamkeit auf die Verbände zu richten.
»Was ist passiert?«
Er konnte sehen, dass es sie Überwindung kostete, darüber zu sprechen. »Ich … schneide mich selbst, weißt du? Das ist so ein Tick. Kannst du im Internet nachlesen. Machen echt viele. Einfach so, mit ’ner Rasierklinge.«
»Aha.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Konnte sein, dass er schon einmal von diesem Phänomen gelesen hatte, das vor allem Mädchen und junge Frauen betraf, denn es kam ihm nicht ganz unbekannt vor. Doch ein paar oberflächliche Zeilen darüber zu lesen, war sehr viel abstrakter, als von einer Bekannten zu hören, dass sie es wirklich tat.
»Find ich echt gut, dass du nicht so
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