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Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)

Titel: Der Kuss des Engels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Lukas
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’ne große Sache daraus machst. Meine Eltern sind total ausgeflippt. Wenn die Ärztin nicht gesagt hätte, dass ich geschont werden muss, ich glaub, dann hätten sie mich sofort in irgendeine Anstalt geschickt.«
    Eine Therapie ist das Mindeste, schätzte er, aber das sollten ihr andere sagen. »Als Raucher bin ich nicht unbedingt in der Position, anderen Leuten vorzuschreiben, wie sie mit ihrem Körper umgehen sollten. Das heißt aber nicht, dass ich es in Ordnung finde, wenn du dich selbst verletzt.« Er fuhr fort, bevor sie zu einer Verteidigung ansetzen konnte. »Die Blutvergiftung kommt also daher?«
    »Ja, ich hab die Wunden wohl nicht richtig versorgt. Immer nur gut eingepackt, damit sie keiner sieht. Heißt es nicht, dass sich glatte Schnitte nicht entzünden, weil das Blut den Dreck rauswäscht? Hat wohl nicht genug geblutet. Jedenfalls hat was angefangen zu gammeln, und ich hab mich nicht zum Arzt getraut.«
    Jean stürzte den Rest des scheußlichen Kaffees hinunter. Das war alles schön und gut, oder besser gesagt schlecht, doch er fragte sich allmählich, was er hier zu suchen hatte. Hielt Lilyth ihn etwa für ihren persönlichen Beichtvater? Oder hatte die Ärmste keine Freunde, mit denen sie über ihre Probleme reden konnte? Er warf den leeren Becher in den Mülleimer, während er nach Worten suchte, die sie nicht verletzen würden. »Versteh mich nicht falsch! Es tut mir leid, dass es dir schlecht geht, und ich hoffe sehr, dass du bald auch die psychologische Unterstützung bekommst, die du brauchst, um mit dieser Sache fertig zu werden. Aber was hat das alles mit mir zu tun?«
    Wieder zögerte sie. »Anfangs da … da hab ich es nur manchmal gemacht. Es war alles cool. Das klingt jetzt vielleicht schräg, aber ich hab mich echt gut dabei gefühlt. Meistens war der letzte Schnitt schon verheilt, bis ich wieder Lust darauf hatte.« Sie warf einen nervösen Blick zum Nachbarbett.
    Jean sah über die Schulter. Die Frau las zwar in ihrem dicken Taschenbuch, aber sie hörte zweifellos jedes Wort mit. So unauffällig wie möglich zuckte er mit den Schultern, um Lilyth zu signalisieren, dass er ihr Problem verstand, aber nichts daran ändern konnte. Sie war zu schwach, um mit ihm auf den Flur hinauszugehen, und selbst dort hielten sich so viele Leute auf, dass es sich kaum vermeiden ließ, belauscht zu werden. Sie musste ihre Worte mit Bedacht wählen oder sie aufschreiben. Er tat, als kritzele er mit einem imaginären Stift auf seine Handfläche, und hob fragend die Brauen.
    »Gute Idee«, befand Lilyth, »aber ich hab nichts zum Schreiben hier. Hast du keinen Stift einstecken?«
    »Leider nicht.«
    »Brauchen Sie auch Papier?«, ließ sich ihre Bettnachbarin vernehmen. Als sich Jean umdrehte, zog sie bereits einen Block aus einem Stapel Zeitschriften auf einer Ablage. Ein Kugelschreiber lag neben ihrem Telefon. Sie reichte ihm beides.
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank.«
    »Ach«, wehrte sie mit einer wegwerfenden Geste ab, »wenn man länger hier ist, sammelt sich so einiges an.«
    Er schenkte ihr ein Lächeln, bevor er sich wieder abwandte, um die Schreibutensilien an Lilyth weiterzugeben. Als er sich einen Stuhl an ihr Bett gezogen hatte, hielt sie ihm den Block bereits wieder hin. »Ich glaube, ich bin besessen« stand in verschnörkelter Mädchenschrift darauf zu lesen.
    Wollte sie sich nur wichtig machen? Die Verantwortung für ihr Verhalten auf etwas schieben, wofür sie nichts konnte? Oder ängstigte sie sich so sehr davor, dass sie tatsächlich an eine paranormale Ursache glaubte? Er musste diese Möglichkeiten für sich ausschließen können, bevor er ernsthaft Besessenheit als Grund in Erwägung zog. Nur weil sie zu einer Risikogruppe gehörte, würde er nicht leichtfertig etwas unterstellen und Lilyth in noch größere Furcht versetzen. »Warum glaubst du das? Du hast doch gesagt, dass du dieses – nennt man es nicht Ritzen? – schon länger machst.«
    Wieder hob sie die verbandumwickelten Arme an, dieses Mal mit einem vorwurfsvollen Blick. »Aber doch nicht so! Ich hab’s nur gemacht, wenn der Druck einfach zu groß war. Das … das war eine Erleichterung, auch wenn’s wehgetan hat. Ich hab mich erst mal besser gefühlt. Aber jetzt … konnte ich gar nicht mehr aufhören! Ich hab’s vor mir gesehen, immer wieder. So oft, dass ich’s einfach nachmachen musste. Wie so’n Zwang, verstehst du? Das ist doch nicht normal. Ich wusste doch, dass das zu viel war, aber

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