Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
ich konnte echt nicht aufhören.« Ihre Stimme drohte zu brechen. In ihren Augen schimmerten Tränen.
»Okay, okay«, versuchte er, sie zu beschwichtigen. »Ich glaube dir ja. Das war sicher sehr beängstigend für dich.« Und es klang unangenehm nach dem Toten aus der Rue des Barres. »Ich werde dich nicht damit allein lassen, okay?«
Sie nickte und sah ein wenig beruhigt aus. »Okay.«
»Lass mich einen Moment nachdenken.« Es schien plausibel, dass dämonische Kräfte in diesem Fall zumindest beteiligt waren. Die vorhandenen Schwächen eines Menschen auszunutzen, war die denkbar einfachste Methode, um Macht über ihn zu gewinnen.
»Ich finde, dass sie dringend eine Psychotherapie braucht«, mischte sich die Fremde ein. »Beten hilft da nicht mehr.«
»Ich bin sicher, die Ärzte werden das veranlassen«, erwiderte Jean, ohne sich umzudrehen.
»Na ja, ein bisschen geistlicher Beistand kann ja auch nicht schaden«, gab die Frau grummelnd nach.
Er hoffte nur, dass sie jetzt die Klappe halten würde, und ging seine Optionen durch. Oft spürte er, wenn ein Dämon auf einen Menschen einwirkte – besonders in so massiven, blutigen Fällen wie neulich nachts, bei denen das Opfer völlig den Verstand verlor. Doch falls Lilyth besessen sein sollte, hatte sich der Dämon nun weit zurückgezogen, um nicht entdeckt zu werden und sein Spiel weiterzutreiben, sobald sie wieder in einer weniger überwachten Umgebung war. Möglicherweise war das Selbstverletzen auch nur ein unbedeutender Nebeneffekt, der davon ablenkte, was die dunklen Mächte eigentlich mit dem Mädchen vorhatten. Gewissheit würde ihm höchstens ein stiller Probeexorzismus verschaffen, der den Dämon zwang, sich in irgendeiner Weise bemerkbar zu machen, ohne dass Lilyth erfuhr, was los war. Zeigte sich keine Reaktion, konnte er recht sicher sein, dass keine Besessenheit vorlag. Aber was sollte er tun, wenn es zu einer heftigen Manifestation kam? Er rieb sich das nun schon viertagebärtige Kinn. Nein, das Risiko war zu groß. Medizinische Geräte konnten verrückt spielen, oder die neugierige Fremde Dinge sehen, die nicht für unwissende Augen bestimmt waren.
»Habt ihr …« Er brach ab und griff nach Papier und Stift. »Könnte es mit etwas zusammenhängen, das Maurice und Caradec mit euch gemacht haben?«
Lilyth sah ihn einen Augenblick ängstlich an, dann schrieb sie: »Maurice hat neue Rituale eingeführt und will uns bestimmten ›Wächtern‹ weihen. Er prahlt damit, dass er in Caradecs Zirkel aufgenommen wurde. Da laufen angeblich die richtig großen Sachen.«
»Welche Sachen?«
»Weiß nicht. Er will, dass wir da mitmachen. Deshalb die Weihe. Wenn wir da einsteigen, werden wir alle reich und mächtig, sagt er.«
»Na, wer würde das nicht wollen.« Es war ihm herausgerutscht. Eigentlich wollte er ihr gegenüber in ihrem Zustand nicht so zynisch sein, aber vielleicht lernte sie nur so etwas daraus. »Wie lange wirst du noch hier bleiben müssen?«
»Keine Ahnung, aber ich kann fragen.«
»Gut, dann gib mir Bescheid. Trotzdem werde ich schon mal mit Abbé Gaillard darüber sprechen, was …«
»Wer ist das?«, fragte Lilyth besorgt.
»Jemand, der vielleicht dafür sorgen kann, dass wir nicht warten müssen, bis du hier rauskommst.«
Eingeklemmt zwischen Tisch und Stuhl, die Wand im Rücken, spürte Sophie das Blut in ihr Gesicht spritzen. Sie schrie auf und ließ das Kreuz fallen, um sich hinter ihre schützend gehobenen Arme zu kauern. Klappernd fiel es auf den Dielenboden. Einen Augenblick lang geschah nichts. Ihr Herz schlug wie rasend, und sie hörte nichts als ihren eigenen Atem.
»Bist du jetzt zufrieden?«, fragte das Wesen, das sie für Rafe gehalten hatte.
Misstrauisch spähte sie hinter ihren Armen hervor. Er sah wieder aus wie zuvor. Keine Klauen, kein zorniges Glimmen in den Augen, kein Gesicht, das sich entstellend verzog.
»Steh auf!«, befahl er und streckte eine Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Kein bisschen Blut klebte mehr an Haut und Nägeln, obwohl sie es deutlich gesehen hatte.
Auf bebenden Beinen schob sie sich an der Wand empor, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Er zuckte die Achseln und ging die drei Schritte vor den Schrank, um ihn erneut zu öffnen. Der Weg um den Tisch zur Tür war frei. Sophie schnellte vor, schoss um die Ecke und auf die Tür zu. Im Schloss klickte etwas. »Nein!« Ungläubig rüttelte sie am Knauf. Als er neben ihr auftauchte, erstarrte sie.
»Vielleicht solltest du erst
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