Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
an sie erinnerte? Das sollte ich nicht einmal denken. Ihm so romantische Beweggründe zu unterstellen, machte sie nur empfänglicher für seine Verführungsversuche. Sie durfte sich jetzt keine Schwäche mehr erlauben, bis sie sicher war, was der richtige Weg war, mit dem Problem umzugehen. Herr des Himmels! Konnte es daran eigentlich irgendeinen Zweifel geben? Es lag auf der Hand, dass sie sich von ihm fernhalten, jeden Kontakt verweigern und ihn so lange abblitzen lassen musste, bis er aufgab.
Andererseits war er auf seltsame Weise immer noch Rafe, der Mann, den sie liebte. Und sie hatte ihn gegen jede Wahrscheinlichkeit wiedergefunden. Musste das nicht auch einen Sinn haben?
»Dein Wunsch wäre mir natürlich Befehl – wenn ich Zeit hätte. Wir sehen uns morgen.«
Sophie las noch einmal die Nachricht, die Rafe ihr am Abend zuvor als Antwort geschickt hatte. Sie wusste immer noch nicht, ob sie beleidigt sein sollte, weil er ihr großzügiges Angebot eines klärenden Gesprächs so salopp abgeschmettert hatte. Aber was sollte man von einem selbstgefälligen Dämon auch anderes erwarten? Na toll, jetzt fange ich auch schon an, ihn zu entschuldigen. Ist ja nicht so, als hätte er eine schwere Kindheit gehabt. Sollte er doch zur Hölle fahren!
Missmutig öffnete sie eine SMS von Jean, die irgendwann im Lauf der Nacht angekommen sein musste, ohne sie zu wecken. »Geht es dir gut? Ich mache mir Sorgen, weil du dich nicht gemeldet hast.«
Es war lieb von ihm, obwohl sie nicht vereinbart hatten, dass sie ihm sofort Bericht erstatten würde. Doch es klang schon fast wie ihre Mutter, was sie daran erinnerte, möglichst bald ein Lebenszeichen nach Hedelfingen zu senden, bevor ihre Eltern wieder anriefen. Ein Gespräch über Matz Katz war das Letzte, was sie jetzt brauchte. Am besten schickte sie ihnen heute noch eine Postkarte und schrieb ein paar Sätze über ihre Jobsuche. Und was sollte sie Jean sagen? Sie konnte ihm verheimlichen, dass sie seine Exorzistenformel bereits angewandt hatte, aber war es nötig?
»Habe vor Schreck dein Kreuz verloren. Tut mir sehr leid! Trotzdem geht’s mir gut. Vielen Dank! Sophie«, tippte sie schließlich. Falls er anrief, um Genaueres zu erfahren, konnte sie ihn immer noch auf später vertrösten, um Zeit zu gewinnen, sich über alles klar zu werden.
Das Läuten des netten Nachbarn, der Madame Guimard manchmal Croissants vom Bäcker mitbrachte, hatte Sophie geweckt, sodass sie der Duft des frischen Gebäcks im Flur nicht überraschte. Vermischt mit dem Aroma des Kaffees war er unheimlich verlockend. Beim Anblick der alten Dame am Küchentisch überkam sie sofort das schlechte Gewissen. Sie wusste nicht mehr genau, was sie gebrummt hatte, aber sie hatte sich auf jeden Fall grob benommen, wo Madame Guimard doch so viel Wert auf Höflichkeit legte. »Guten Morgen, Madame«, grüßte sie und bemerkte, dass trotz ihres Verhaltens ein Gedeck für sie vorgesehen war. Eine perfekte Gastgeberin gab sich keine Blöße, um zu schmollen.
»Guten Morgen.« Die Stimme klang dagegen etwas unterkühlt.
»Ich muss mich dafür entschuldigen, wie ich mich gestern aufgeführt habe. Bitte verzeihen Sie mir. Es war ein … schwieriger Tag für mich.«
»Das ist kein Grund, andere Leute so zu behandeln«, tadelte Madame Guimard. »Setz dich! Der Kaffee wird sonst kalt.«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach Sophie und nahm auf ihrem Stuhl Platz. »Die Hitze hat mich einfach fertig gemacht. Konnten Sie auch so schlecht schlafen?« Ein Themenwechsel konnte jetzt nicht schaden.
»Ja, das Wetter ist schrecklich. Und sie sagen so schnell keine Abkühlung voraus.« Madame Guimard zeigte auf das alte Radio, aus dem leise ein französischer Chanson erklang. »Bist du mit dem Streichen gut vorangekommen?«
Sophie spürte, wie sie rot wurde. »Nein, leider nicht. Es war viel zu heiß. Ich werde heute gleich anfangen, bevor es wieder so unerträglich wird.«
»Gut, aber man soll es bei diesen Temperaturen wirklich nicht übertreiben. Nicht, dass du mir einen Hitzschlag bekommst. Vielleicht ging es dir gestern ja deshalb so schlecht.«
Wieder meldete sich ihr Gewissen. »Nein, oder … wer weiß, ja.« Es lag ihr auf der Zunge, etwas über Streit mit ihrem Freund oder Liebeskummer zu sagen, doch das provozierte nur Fragen, die zu weiteren Lügen führten. Rafe hatte durch seine reine Existenz schon einen schlechten Einfluss auf sie. Ständig musste sie die Leute, die es gut mit ihr meinten,
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