Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Sie erwartete eine flapsige Antwort, doch Rafes Lächeln sah eher gequält aus.
»Zuallererst einmal hätte sie mich nie zu Gesicht bekommen, wenn ich nicht deinetwegen so … präsent wäre.«
»Präsent« hielt sie für eine Untertreibung. Selbst die deutlich ältere Touristin hatte kaum die Augen von ihm abwenden können.
»Nachdem sie aber gefragt hat, hätte ich ihr eine falsche Antwort geben müssen«, betonte er. »Ihr zu helfen, wäre eine gute Tat, und die sind meinesgleichen verwehrt.«
»Verwehrt? Soll das heißen, du könntest nicht einmal etwas Gutes tun, wenn du es wolltest?«
»Das Wollen vergeht einem schon mit der Zeit, wenn man so viel Schlechtigkeit sieht und merkt, wie leicht sich die Menschen zu noch Böserem verleiten lassen.«
Über die Restaurantschiffe, das Wasser und die Bäume hinweg wurde Sophies Blick von den Türmen der Notre-Dame angezogen, die in den blassblauen Himmel ragten. Auf diese Entfernung waren die dämonischen Wasserspeier nicht zu erkennen, doch sie wusste aus dem Urlaub mit Rafe, dass sie dort waren und der Fassade ein schaurig mittelalterliches Gepräge gaben. Damals hatte sie sich gefragt, was die Phantasie der Bildhauer beflügelt haben mochte, solche Skulpturen zu schaffen. Im grellen Sonnenlicht schien es absurder denn je, dass sie direkt neben einem solchen Höllenwesen stehen sollte.
»Ich versuche, mir das vorzustellen«, sagte sie und folgte ihm, ohne nachzudenken, als er den Weg nach rechts, fort von der Kathedrale und dem schlimmsten Touristentrubel einschlug. »Wie das sein muss, wenn man nicht tun kann, was man eigentlich will, was man für richtig hält.«
»Es ist die Hölle«, meinte er zynisch. »Man gewöhnt sich daran und findet Gefallen an dem, was man tut. Oder man wird wahnsinnig – was am Ende auf dasselbe hinausläuft. Warum nicht die Macht genießen, wenn man sonst nichts mehr zu lachen hat?«
»Das ist nicht witzig! Du redest von Menschen, die leiden.«
»Hab ich gesagt, dass ich es witzig finde? Die meiste Zeit widert es mich an. Das unterscheidet mich noch vom Dämon. Aber glaub mir, niemand hält das lange durch. Anpassen oder untergehen. Es gibt keine echte Wahl. Jeden Tag muss ich mir das hirnlose Geseire dieser Idioten anhören, ihnen bei ihren Verbrechen zusehen und sie zu noch schlimmeren Taten anstacheln. Zwietracht und Misstrauen säen, Gewalt provozieren … Irgendwann habe ich mich beim ersten zynischen Gedanken ertappt. Von da an geht es Schritt für Schritt bergab.«
Sophie schwieg beklommen. Sie unterquerten eine Brücke, hinter der sich steinerne Bänke unter silbrig schimmernden Bäumen fanden. Die meisten waren bereits besetzt, doch sie hatten Glück, dass eine Frau mit drei Kindern gerade weiterzog.
»Ich fürchte, ich verstehe das immer noch nicht ganz. Wer befiehlt dir, dass du diese Dinge tun sollst?«, fragte Sophie, nachdem sie sich in den Schatten gesetzt hatten. »Der Teufel?« Wenn sie jetzt auch noch anfangen sollte, an einen allwissenden Höllenfürsten zu glauben, der die Strippen des Übels in der ganzen Welt zog, würde sie wieder schreiend davonrennen. Aber musste nicht irgendjemand dafür verantwortlich sein, wenn Rafe die Entscheidungen nicht selbst traf?
»Es ist eine Festlegung. Im einen Moment bist du noch ein Engel mit der Freiheit zu wählen, dann tust du etwas, das du nicht hättest tun dürfen, und schon ist es damit vorbei. Die ewige Verdammnis für ein einziges Vergehen.«
Sophie starrte ihn entgeistert an, doch sein Blick war auf den Fluss gerichtet. »Willst du damit sagen, es sei Gottes Wille, dass du die Menschen dazu bringst, sich gegenseitig furchtbare Dinge anzutun?«
»Wenn es dir leichter fällt, könntest du mich auch als Handlanger des Karmas bezeichnen, der dafür sorgt, dass die Leute bekommen, was sie verdient haben. Niemand zwingt sie, auf mich zu hören. Es ist allein ihre Entscheidung. Das war es doch, was du mich letzte Nacht fragen wolltest, oder nicht? Ich kann dich zu nichts zwingen. Meine Waffen sind Verlockung, Verhöhnung, Einflüsterungen, das richtige Wort, der richtige Gedanke im falschen Moment. Selbst indem ich dir das alles erzähle, mache ich dich nur geneigter, mir nachzugeben. Ich kann es sogar gestehen, weil es nichts daran ändert, wie du gestrickt bist. Und das Dumme ist, dass ich es nicht einmal bedauern kann.« Erst jetzt wandte er sich ihr zu und lächelte traurig. »Ich könnte dich nicht aufgeben.«
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen,
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