Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
es im Gelächter beinahe nicht gehört, doch der aggressive Unterton drang zu ihr durch. Verlegen hängte sie rasch die Rolle an den Rand des Eimers. »Hi, Rafe.«
Pascal sah skeptisch zwischen ihr und dem Neuankömmling hin und her. Gegen Rafe wirkte er plötzlich kleiner, schmächtiger und sehr jung. »Ist das dein Freund?«
Fieberhaft überlegte sie, während sie eilig von der Leiter stieg. »Ähm, ja«, rang sie sich ab, bevor das Schweigen zu peinlich wurde. »Fang ruhig schon mal an! Ich komme gleich wieder.« Ich rede mal wieder dummes Zeug. Als ob er nicht ohne mich seine Arbeit machen könnte.
Rafe starrte Pascal so lange finster an, bis sich jener ab- und seinem Farbeimer zuwandte. Sophie warf ihm einen strafenden Blick zu. Als sie sich an ihm vorbei durch die Tür schlängelte, wollte er nach ihr greifen, doch sie duckte sich und entkam. »Wag nicht, mich anzufassen!«, zischte sie. »Du hast kein Recht mehr, hier so aufzutreten.«
»Ich teile nicht gern«, beschied er ihr düster.
Sie entfernte sich einige Schritte von der offenen Tür, bevor sie sagte: »Es gibt nichts zu teilen! Du bist immer noch ein Dämon.«
»Streng genommen bin ich immer noch kein Dämon, jedenfalls was die Optik betrifft«, korrigierte er sie. »Und als deinem Freund steht mir zumindest ein Kuss zu.«
Sie wich seinem Blick aus, in den sich wieder ein belustigtes Funkeln geschlichen hatte. »Du wirst mich nicht anrühren, oder wir wechseln nie wieder ein Wort!«
Er zuckte die Achseln. »Ich fand ohnehin, dass wir ohne Worte immer am besten waren.«
Schweigend hob sie die Hand vors Gesicht und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Wie sollte sie jemals ein ernsthaftes Gespräch mit ihm führen, wenn er es darauf anlegte, sie in den Wahnsinn zu treiben? »Ich sag dir was«, verkündete sie und sah ihn ernst an. »Das hier ist deine letzte Chance. Ich habe noch ein paar Fragen an dich, weil ich den Mann geliebt habe, der du warst. Wenn du sie mir jetzt nicht beantwortest, will ich dich nie wiedersehen, und ich bin sicher, dass Jean Möglichkeiten kennt, wie man sich vor Wesen wie dir schützen kann.«
»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.« Seine Miene verriet nicht, ob es eine Drohung oder nur ein spöttischer Hinweis war. »Aber wenn du dieses … Ding ausziehst, können wir spazieren gehen und darüber reden, was du wissen willst.«
Himmel, ja! Sie hatte immer noch den scheußlichen Kittel an. Hastig knöpfte sie ihn auf und streifte ihn ab, während sie in den Laden zurückging, um ihn dort abzulegen. Pascal sah sie neugierig an, doch sie ging nicht darauf ein. In Gedanken ging sie noch einmal durch, was sie sich in der Nacht überlegt hatte. Es kam ihr vor, als habe sie vor Aufregung schon wieder die Hälfte vergessen. Rafe wartete, von der prallen Sonne offenbar unbeeindruckt, vor dem Nachbarhaus auf sie und schien jeden Zentimeter nackter Haut zu mustern, den das Top seinem Blick darbot.
»Schau nicht so! Ich will, dass du auf Distanz bleibst.«
»Ganz wie du willst. Du warst es, die vor Vergnügen geseufzt hat, wenn ich …«
»Rafe!« Er hatte es tatsächlich geschafft, dass sie sich für einen Sekundenbruchteil nach seiner Berührung gesehnt hatte. »Das war alles, was ich wissen wollte«, meinte er grinsend. »Du bist dran.«
Sie konnte nur den Kopf schütteln und schlug wie von selbst die Richtung zur Seine ein. Am Wasser würde vielleicht noch am ehesten eine kühlende Brise wehen. Rafe ging schweigend neben ihr her, und sie nutzte den Aufschub, um sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu sortieren. Es war nicht weit bis zum Ufer, nur die abschüssige Rue des Carmes hinab, über den von hohen Bäumen beschatteten Place Maubert und die Rue Frédéric Sauton entlang. Was den Verkehr anging, war es zwar ruhiger geworden, da immer mehr Pariser in die Ferien verschwanden, doch dafür wanderten umso mehr Touristen die Uferstraßen und Kais auf und ab.
»How far is it to the Eiffel tower?«, erkundigte sich eine dem Akzent nach osteuropäische Frau mit ausladendem Sonnenhut, um den Sophie sie beneidete. Sie erklärte der entsetzten Touristin, dass sie noch etwa eine Stunde Fußmarsch vor sich habe, und riet ihr, am Place Maubert die Métro zu nehmen. Unter tausend Dankesbezeugungen zog die Fremde davon.
»Wie ist das als gefallener Engel?«, wollte Sophie wissen, während sie die Stufen zur Seine hinabstiegen. »Hättest du ihr jetzt aus purer Bosheit einen falschen Weg beschrieben?«
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