Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
um.
»Wie? Ich meine, wie hat sie sich die Arme so übel zugerichtet?«
»Sie hat sich geschnitten – mit einer Rasierklinge.«
Sophie sah das Brotmesser in ihr Fleisch schneiden, und ihr wurde schlecht.
»Mon Dieu! Was ist passiert? Du siehst furchtbar aus!« Madame Guimard klang, als würde sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, doch stattdessen hatte Sophie eher den Eindruck, als flattere sie wie ein aufgescheuchtes Huhn um sie und Pascal herum, was für ihr Alter eine erstaunliche Leistung war.
»Sie ist plötzlich ganz blass gewesen, und dann musste sie sich übergeben«, berichtete Pascal, der sie nach Hause gebracht und ihr die Treppen hinaufgeholfen hatte. Selbst jetzt stützte er sie noch, und der Geste haftete nichts Frivoles an. Sie schätzte, dass ihm das Flirten vergangen war, als sie in den fast leeren Farbeimer erbrochen hatte. »Ich hab gedacht, sie klappt mir jeden Moment zusammen.«
»Bestimmt die Hitze«, vermutete Madame Guimard und dirigierte Pascal und sie zu ihrem Zimmer. »Und dann noch die Farbdämpfe! Ich hätte dich bei diesem Wetter niemals so schwer arbeiten lassen dürfen!«
»Es geht mir schon wieder besser.« Sophie löste sich von Pascal und wankte auf unsicheren Beinen weiter.
»Ja, so siehst du aus«, widersprach er und wollte wieder nach ihrem Ellbogen greifen, aber Madame Guimard schob sich dazwischen.
»In ihr Bett schafft sie es noch allein, junger Mann. Wer bist du überhaupt?«
»Pascal Roussel, der Lehrling von Meister Bruno.«
»Aha. Es war sehr freundlich von dir, Pascal, dass du Sophie nach Hause gebracht hast. Wir sind dir sehr dankbar und werden uns erkenntlich zeigen, aber jetzt solltest du gehen, damit ich mich um sie kümmern kann.«
»Aber meine ganzen Sachen sind noch im Laden, und der ist jetzt abgeschlossen.«
Die Stimmen entfernten sich, während Sophie auf ihr Bett sank. Den Kittel hatte sie schon im Geschäft ausgezogen; jetzt musste sie nur noch die Schuhe von den Füßen streifen.
»Hier hast du einen Schlüssel. Wirf ihn mir einfach in den Briefkasten, wenn du mit allem fertig bist. Au revoir, Pascal.«
»Au revoir, Madame. Au revoir, Sophie!«, rief er noch, bevor sie schon die Tür zufallen hörte. Madame Guimard machte wirklich kurzen Prozess mit Herrenbesuch.
Sophie streckte sich auf dem Bett aus. Eigentlich war es zu warm, um unter die Decke zu kriechen, doch innerlich war ihr so kalt, dass sie es dennoch tat. Hatte sie vielleicht so etwas wie Schüttelfrost ohne Schütteln? Das passiert bei einem Schock, erinnerte sie sich. Sie empfand den Raum als stickig, aber wenn sie das Fenster öffnete, würde nur noch heißere Luft hereinkommen.
»Hast du denn genug getrunken, Kind?«, erkundigte sich Madame Guimard und stellte ein Glas und eine Karaffe mit Wasser auf dem Nachttisch ab.
Sophie fiel auf, dass sie außer einem Fläschchen Wasser zum Mittagessen überhaupt nichts getrunken hatte. »Für diese Hitze wohl nicht.«
»Dann musst du ordentlich nachholen. Wie fühlst du dich? Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein, es geht mir wirklich schon besser. Trinken und schlafen – ich glaube, das ist alles, was ich jetzt brauche.«
»Bist du ganz sicher?«
»Ja, ganz sicher.« Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.
»Na gut. Ruf mich, wenn du etwas brauchst! Ich werde nachher noch einmal nach dir sehen.« Sichtlich widerstrebend verließ Madame Guimard das Zimmer und lehnte die Tür an.
Es tat gut, das kühle Wasser durch die ausgetrocknete Kehle rinnen zu lassen und endlich allein zu sein. Was für ein Glück, dass Jean nicht mehr gesehen hatte, wie sie in den Laden getorkelt war. Oder sollte sie ihm besser von der Sache mit dem Brotmesser erzählen? Befand sie sich in Gefahr, im Krankenhaus oder gar als Leiche in der Gosse zu landen wie der Mann auf dem Foto? Beide Male hatten sich die Opfer selbst die Schnitte zugefügt – behauptete zumindest Jean. Musste sie sich deshalb von Rafe fernhalten? Was hatten diese Vorfälle mit ihm zu tun? Durfte sie ihm abnehmen, dass er nicht darin verwickelt war, nur weil es glaubwürdig geklungen hatte? Wenn es nach Jean ging, konnte sie ihm gar nichts glauben, aber das fiel ihr schwer. Was er ihr heute am Fluss erzählt hatte … Es hatte sich so aufrichtig angehört, aufrichtig, schlüssig und tragisch. Die perfekte Lüge, um eine Frau auf seine Seite zu ziehen. Wenn es eine Lüge war …
Stöhnend warf sie sich auf die andere Seite. Diese Ungewissheit macht mich
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