Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
zu zweifeln, sondern einfach zu glauben. Gott hat immer recht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ob Rafes Argumente stichhaltig waren oder nicht, spielte dafür keine Rolle, weil er kein Pfarrer mit der Lizenz zur Bibelauslegung, sondern nur irgendein Sünder war. Das half ihr eigentlich nicht weiter, aber was hatte sie von einem Priester anderes erwartet? Es war seine Aufgabe, den Menschen die Botschaft der Kirche zu predigen. Hätte er Rafe nicht trotzdem anhand von irgendetwas widerlegen können, das weniger schwammig war? Ein Pauschalurteil hätte sie auch von Jean haben können. Nun war ihr erst recht, als sitze sie zwischen zwei Stühlen, und beide wackelten, weil ihnen ein Bein fehlte. Abbé Richet sagte, das Böse gehe vom Teufel aus, während Rafe behauptete, es sei von Gott angeordnet. Das eine behagte Sophie so wenig wie das andere. War es da ein Wunder, dass sich so viele rational denkende Menschen vom Glauben abwandten? Doch nachdem sie den Dämon gesehen hatte, konnte sie diesen Fragen nicht mehr so leicht den Rücken zuwenden.
»Et vous?«, fragte eine Stimme ungeduldig.
Oh! Ich bin dran. Überrumpelt kaufte sie je ein Bällchen Stracciatella und Erdbeersorbet. Das Eis schmeckte köstlich, aber es schmolz höllisch schnell. Sie beeilte sich mit dem Schlecken und lief dabei gedankenverloren die Straße entlang, bis ihr auffiel, dass sie schon fast vor Jeans Haus stand. Sollte sie nicht doch mit ihm darüber sprechen? Er mochte dieselben, wenn nicht schlimmere Vorbehalte gegenüber einem gefallenen Engel hegen wie der Priester, aber mit ihm konnte sie wenigstens offen reden. Außerdem hatte sie bei ihm nicht den Eindruck, dass er sie um des Glaubens willen bekehren wollte, sondern nur darum bat, die Gefahr ernst zu nehmen.
Kurz entschlossen spülte sie die letzten Waffelkrümel mit Wasser hinunter, drückte das schwere Tor auf, überquerte den Hof und stieg die Stufen in den sechsten Stock hinauf. Wenigstens hatte jemand mehrere Fenster geöffnet, sodass im Treppenhaus Durchzug herrschte. Die Luft war zwar warm, aber die Brise kühlte Sophies verschwitzte Haut. Dennoch musste sie den Hut abnehmen und fächelte sich Wind zu. Mit der anderen Hand versuchte sie, die feuchten, platt gedrückten Haare zu lockern. Sie sah sicher furchtbar aus und schnaufte wie eine Dampflok. Musste man nur lang genug in Paris leben, um fit genug für die vielen Treppen zu werden, oder kam man ums Joggen nicht herum?
Wieder wartete sie, bis sich Puls und Atmung halbwegs beruhigt hatten, bevor sie klingelte. Nichts rührte sich. Ihr fiel auf, dass sie keine Ahnung hatte, ob Jean für gewöhnlich um diese Zeit zu Hause war, da sie nicht einmal wusste, womit er Geld verdiente. Sie sah auf die Uhr. Zehn nach elf. Er konnte überall sein, bei der Arbeit, einkaufen oder trainieren. Eher verzweifelt als hoffnungsvoll läutete sie noch einmal. Sie konnte sich nicht überwinden, wieder zu gehen, ohne es ein zweites Mal versucht zu haben.
Gerade als sie sich abwenden wollte, sah sie den Schemen hinter den bunten Glasscheiben herankommen. Das Schloss knackte, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Jean blinzelte sie mit verschlafenen Augen an. »Sophie?« Tür und Lider wurden weiter aufgerissen. Er trug nur eine offenbar hastig übergestreifte Jogginghose, da er nicht einmal Socken an den Füßen hatte.
Sophie ertappte sich dabei, dass ihr Blick an seinem drahtigen Oberkörper hängen blieb, und sah ihm rasch wieder ins Gesicht. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich hätte mir denken sollen …«
»Schon gut. Komm rein!« Er trat zur Seite und fuhr sich mit der Hand durch das ungekämmte Haar. »Ist ohnehin Zeit zum Aufstehen.«
»Soll ich dir einen Kaffee machen?«, fragte sie, weil sie sich schuldig fühlte. Normalerweise wäre ihr im Traum nicht eingefallen, in einer fremden Küche das Kommando zu übernehmen.
»Äh, ja, danke, gern.« Er überwand seine Überraschung, schmunzelte und schloss die Tür. »Du darfst dir auch gern eine Tasse abzweigen.«
»Sehr großzügig, aber mein Herz rast jetzt noch von der Treppe.« Zumindest hoffte sie das. Ihre Beziehung zu Rafe war schon kompliziert genug.
»Gut, dann … zweite Tür rechts. Geh schon vor! Ich … sollte mir wohl erst mal etwas anziehen.«
»Ja«, bestätigte sie zögernd. »Solltest du.« Und wenn es nur ist, damit ich nicht ständig auf diese Muskeln starren muss. »Apropos anziehen«, begann sie und wedelte mit ihrem Sonnenhut. »Wusstest
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