Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Gottes Ratschluss infrage zu stellen, ist Hochmut, eine der sieben Todsünden.«
»Das kann aber manchmal sehr hart sein«, wagte sie einzuwenden. »Wenn ein Kind an einer unheilbaren Krankheit stirbt, dann kann es doch gar nichts verbrochen haben, was diese Strafe rechtfertigt.«
»Sicher haben wir es dann nicht mit einer Strafe zu tun, sondern mit einem üblen Werk des Satans.«
»Aber Gott lässt es zu.«
»Darüber verzweifeln viele junge Eltern. Haben Sie auch ein Kind verloren?«, erkundigte sich Abbé Richet milder.
»Nein, die Frage beschäftigt mich nur schon seit langer Zeit.«
»Das spricht für Ihr mitfühlendes Herz, aber lassen Sie sich nicht von Bitterkeit verleiten, Gottes Entscheidungen infrage zu stellen. Manchmal erlegt er uns Prüfungen auf, deren Sinn wir nicht begreifen. Doch nur weil wir seine Gründe nicht kennen, dürfen wir nicht daran zweifeln, dass er es gut mit uns meint.«
Sophie seufzte unwillkürlich. Rafe als Prüfung zu begreifen, deren Sinn sich ihr verschloss, war eine verlockend einfache Sicht der Dinge.
»Beten Sie, Mademoiselle! Gott wird Ihnen die Duldsamkeit schenken, jedes Schicksal zu ertragen, wenn Sie nur darum bitten.«
»Ja, vielen Dank, Abbé.«
»Dann sind Ihre Fragen damit geklärt?« Er stand auf, und Sophie musste den Kopf höher heben als gewöhnlich, um ihn unter der Hutkrempe noch ansehen zu können.
»Oh, eine hätte ich noch. Warum sollen Frauen eigentlich während der Messe ihren Kopf bedecken? Steht das auch in der Bibel?«
»Ja, lesen Sie den ersten Korintherbrief! Paulus fordert darin, dass betende Frauen einen Schleier tragen.«
»Ja, aber warum?«
»Der Engel wegen, Mademoiselle. Paulus sagt: ›Der Engel wegen.‹«
A ls sie die Kirchentür öffnete, war Sophie, als schlage ihr die Hitze eines Backofens entgegen. Die Sonne gleißte am Himmel und hatte noch nicht einmal den Zenit erreicht, doch Sophie fühlte sich bereits so ausgelaugt, dass sie etwas zu trinken brauchte. In einem Tante-Emma-Laden, hinter dessen Kasse ein ergrauter Asiate saß, kaufte sie ein Fläschchen Wasser und nahm gleich auf der Straße ein paar Schlucke daraus.
Wegen der Engel. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Es konnte kein Zufall sein, dass sie auf ihre Frage prompt wieder auf eine Bibelstelle mit Engeln verwiesen worden war. Oder war die Heilige Schrift so voll davon, dass man immer auf sie stieß? Das hatte sie aus ihrer Kindheit anders in Erinnerung.
Das Wasser belebte sie, doch es füllte das Loch in ihrem Bauch nur unzureichend. Sie musste etwas essen, aber in der Hitze schien ihr weder die Aussicht auf ein allem Belag zum Trotz eher trockenes Baguette noch auf ein warmes Gericht sonderlich verlockend. Für das Mittagessen war es streng genommen ohnehin zu früh. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie eine Touristenfamilie, deren Kinder an schmelzenden Eiskugeln schleckten. Eis! Das war es. Wann wäre je ein Eis passender gewesen als bei fünfunddreißig Grad im Schatten? Und die Berthillon-Anbieter auf der Île Saint-Louis waren nur einen Katzensprung entfernt.
Sie schlenderte die schmale, ruhige Rue des Bernardins zur Seine hinab, wo linker Hand die Zwillingstürme der Notre-Dame am gegenüberliegenden Ufer aufragten. Die Straße führte über eine Brücke auf die Île de la Cité hinüber und zwischen dem Park hinter der Kathedrale und dem begrünten Ostzipfel der Insel hindurch. Schon hier war die Ruhe der nahen Île Saint-Louis spürbar. Von der Pont Saint-Louis aus entdeckte Sophie ein junges Paar, das am Fuß des hohen gemauerten Quai d’Orléans saß und die Füße ins Wasser baumeln ließ. Bestimmt war die Seine erfrischend, doch auf den Steinblöcken der Uferbefestigung konnte man wahrscheinlich Spiegeleier braten. Sophie beschloss, sich lieber ein schattigeres Plätzchen zu suchen, sobald sie ihr Eis hatte.
Das kann dauern, stellte sie fest, als sie die Schlange vor der ersten Eisdiele sah. Sie ging eine Runde um den Block, um einige andere Cafés mit Straßenverkauf abzuklappern, doch es bot sich überall das gleiche Bild. Wer eine Erfrischung wollte, hatte nur die Wahl, sich anzustellen oder sich an einen der wenigen freien Tische zu setzen, wo das teure Eis noch mehr kostete. Da sie noch keine Aussicht auf einen Job hatte, reihte sie sich in eine Schlange ein, wo sie wenigstens im Schatten stand.
Wenn sie es genauer bedachte, war der Priester nicht auf ihre Einwände eingegangen. Im Grunde hatte er ihr nur geraten, nicht weiter
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