Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
zu ihrem modernen Sommerkleid passte, suchte sie die Seitenstraßen der Rue des Écoles ab. Sie hatte das Portal der kleinen Kirche vor Augen, erinnerte sich an eine schlichte Fassade mit klassizistischen Elementen und einen kleinen Baum davor, aber nicht an den genauen Ort. Es war an einer Kreuzung gewesen, Rue Monge Ecke Rue des Bernardins, wie sich schließlich herausstellte. Das Tor unter dem schattenspendenden Bogen war verschlossen und mit Aushängen zum Gemeindeleben gepflastert. Ein Schild forderte Touristen auf, die Kirche nur mit angemessener Kleidung zu betreten, die Schultern und Beine verbarg, und Frauen hatten während des Gottesdiensts auch ihren Kopf zu bedecken. Offenbar ging es in Saint-Nicolas-du-Chardonnet strenger und sittsamer zu als in anderen Kirchen der Stadt, denn Sophie hatte nie zuvor eine solche Ermahnung gelesen. Verunsichert sah sie an sich herab. Mit dem Hut wäre sie sogar für eine Messe gerüstet, doch wie stand es um das Kleid? Konnte ein konservativer Priester es zu gewagt finden? Immerhin reichte es bis über die Knie, wenn auch nicht bis zum Boden. Und die Ärmel waren zwar kurz, verhüllten jedoch die Schultern.
»Wenn sich alle jungen Dinger so viele Gedanken darüber machen würden wie Sie, wäre schon viel gewonnen«, befand eine gebeugte ältere Dame, die hinter ihr herangekommen war. »Gehen Sie nur hinein! Der curé wird Sie nicht gleich fressen.« Sie ging auf eine der beiden Türen zu, die zur Linken und Rechten das Tor flankierten, und Sophie beeilte sich, ihr sie aufzuhalten. »Merci, Mademoiselle.«
Im Innern der Kirche herrschte angenehme Kühle, obwohl die Luft auch hier etwas stickig war. Liegt vielleicht am Weihrauch. Außer ihr selbst verteilten sich nur drei oder vier Menschen in dem lichten, dreischiffigen Bauwerk. Saint-Nicolas-du-Chardonnet wirkte nicht so alt wie Notre-Dame, aber auch keineswegs modern, doch sie hatte keine Muße, Fliesen aus Marmor, Wandgemälde und Skulpturen zu bestaunen. Ihre Gedanken weilten bereits bei den Fragen, die sie stellen wollte. Jetzt musste sie nur noch einen Priester finden.
Hinter dem Chor gab es einen Säulengang, sodass Besucher den Altarraum umrunden konnten. Sie wandelte dort entlang und hielt nach einem Mann Ausschau, der wie ein Geistlicher aussah. Wenn sie Pech hatte, würde sie sich im Mittelschiff auf eine der Bänke setzen und warten müssen, bis jemand aus der Sakristei auftauchte.
Am hinteren Ende des Chorumgangs stand eine Art Baugestell mit Plattform, zu der eine Leiter hinaufführte. Neugierig legte Sophie den Kopf in den Nacken, um nachzusehen, was renoviert wurde, und entdeckte überrascht einen jungen Mann in schwarzer Soutane, der Glühbirnen an einem Leuchter auswechselte. Sie hatte einen Maler oder einen anderen Handwerker dort oben erwartet, aber gewiss keinen Priester. Der junge Mann hatte dunkles Haar und trug einen kurzen Vollbart, doch seine Haut war eher blass. Das lange, weite Gewand behinderte ihn, als er mit einer Schachtel Glühbirnen in der Hand die Leiter hinunterkletterte, wickelte sich um Füße, Knöchel und Sprossen. Dennoch kam er wohlbehalten auf dem Boden an, schüttelte mit der freien Hand die Soutane glatt und wollte davongehen, ohne Sophie zu beachten.
»Monsieur?«, sprach sie ihn an, bevor er durch eine Tür verschwinden konnte. »Bitte verzeihen Sie! Ich sehe, dass Sie beschäftigt sind, aber ich brauche geistlichen Rat.«
Er warf ihr einen verblüfften Blick zu und musterte sie ungläubig. Sicher hatte er sie für eine Touristin gehalten, die sich nur zufällig in diese Kirche verirrt hatte. »Möchten Sie zur Beichte? Die ist …«
»Nein, nein, nein«, unterbrach sie ihn rasch. Auf keinen Fall wollte sie in einem Beichtstuhl landen. Das erste und letzte Mal hatte sie vor ihrer Erstkommunion in einem solchen Kasten gesessen und war sich darin sehr gefangen vorgekommen. »Es ist … eher eine dringende Glaubensfrage, die mir keine Ruhe lässt.«
Strenge, aber auch Unsicherheit lagen in den dunklen Augen. »Dann … äh … schicke ich Ihnen jemanden, der Ihnen sicher weiterhelfen kann. Einen Moment, bitte!« Mit flatternder Soutane fegte er nun doch durch die Tür, die wohl zur Sakristei führte.
Wieso kann er das nicht?, wunderte sich Sophie und schüttelte den Kopf. Vielleicht war er nur der Diakon oder Kaplan oder wie diese Ämter hießen, die dem eigentlichen Pfarrer unterstanden. Sie stellte fest, dass sie sich in der Kirchenhierarchie kaum auskannte. Es
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