Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
seinen dunklen Mantel mit sich herum, den er über den Arm mit der verletzten Hand gelegt hatte.
»Keine Ahnung.« Der Name der Station, Anvers, kam ihr nicht bekannt vor. Neugierig sah sie sich auf dem breiten Boulevard um, von dem der Ausgang der Métro umgeben wurde wie eine Insel von einem Fluss. Bäume, Straßenbahnschienen, Autos, Reisebusse, alte Häuser, Reklametafeln … Es war anderen Ecken von Paris zu ähnlich, um sicher zu sein, ob sie diesen Ort früher schon einmal gesehen hatte.
»Wir müssen hier entlang.« Jean lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine schmale Seitenstraße, die steil bergauf führte.
Einer Ahnung folgend, richtete Sophie den Blick weit nach oben. Weißer Stein leuchtete vor grauem Dunst. »Oh, natürlich war ich hier schon mal! Hier geht’s zur Sacré-Cœur! Wollen wir denn dort hin?«
»Fast. Ich will in die alte, kleine Kirche nebenan, Saint-Pierre-de-Montmartre.« Er ging voran, die schon am frühen Vormittag belebte Rue de Steinkerque hinauf. Aus zahlreichen Souvenirläden quollen billiger Kitsch und Tand mit mehr oder weniger geschmacklosen Parismotiven auf die Straße. Dazwischen hatten einige Textiliengeschäfte überlebt, die mit ihren Stoffballen zum überbunten Bild beitrugen, doch im Gegensatz zu manchem Nachbarn glaubten sie nicht, Kunden durch laute Musik auf ihre Auslage aufmerksam machen zu können. Touristen aus der ganzen Welt pilgerten den Hügel hinauf und hinab. Ihre Stimmen vermischten sich mit jenen asiatischer, afrikanischer und arabischer Andenkenhändler zu einem babylonischen Sprachengewirr. Sophie folgte Jean durch das Gewühl und hielt ihre Tasche fester als sonst. Wo so viele sorglose Reisende zusammenkamen, waren Diebe nie weit.
Die Straße mündete in einen kleinen Platz mit einem Kinderkarussell. Dahinter führten zu beiden Seiten breite Treppen in mehreren scharfen Kehren durch eine Grünanlage weiter nach oben, zum Wahrzeichen Montmartres, den leuchtenden weißen Kuppeln der Kirche Sacré-Cœur. Zwei kleine Türmchen flankierten das Portal, wurden überragt von zwei größeren Kuppeldächern, die sich links und rechts des Mittelschiffs erhoben, und in der Mitte thronte über allem die in eine Spitze auslaufende Haube des Hauptturms. Mehr denn je fand Sophie, dass das Bauwerk gleichermaßen an das indische Tadsch Mahal wie an russische Kirchen erinnerte. Dort oben, auf dem Säulengang um die große Kuppel hatten sie gestanden, als Rafe ihr den Heiratsantrag gemacht hatte.
»Kommst du?«, fragte Jean, aber es klang nicht ungeduldig.
Sie riss sich von dem Anblick los, den um sie herum etliche Touristen mit Digitalkameras und Camcordern einzufangen suchten. Schon am Fuß der Treppe lauerte ein Schwarm schwarzer Jugendlicher, um von allen Seiten auf sie einzudringen. »Ein Geschenk! Bringt Glück!«, riefen sie und wedelten mit bunten Wollfäden herum. Sophie sah, wie sie nachgiebigen Naturen die Fäden um die Finger knoteten, um dann Geld dafür zu verlangen. Instinktiv schloss sie enger zu Jean auf und ergriff die Hand, die er ihr reichte, während sie mit der anderen die aufdringlichen Bettler abwehrte. »Nein, kein Interesse!«
Die meisten wendeten sich rasch neuen Opfern zu, nur zwei blieben hartnäckig, bis Jean sie anherrschte. »Verzieht euch!«
Er führte sie zwischen staunenden Touristen und älteren Schwarzen hindurch, die bündelweise kleine Eiffeltürme mit sich herumschleppten oder sie wie Zinnsoldaten auf Tüchern vor sich aufreihten. Seine ritterliche Geste erinnerte sie an Rafe. Immer wieder wanderte ihr Blick zur Kuppel hinauf. Stand er gerade dort oben und beobachtete sie? Plötzlich fühlte sie sich schuldig und entzog Jean ihre Hand. Sie war sich sicher, dass Rafe hier war und auf sie wartete. »Jean?«
Er drehte sich zu ihr um. Sie hatten die Aussichtsplattform vor dem Portal erreicht, aber ihr war nicht danach, sich dem Ausblick zuzuwenden.
»Ich … will nicht mitkommen. Wahrscheinlich störe ich bei diesem Gespräch doch sowieso nur.«
»Unsinn. Schwester Adelaide ist eine sehr freundliche Frau. Sie wäre sicher erfreut, dich kennenzulernen.«
Sophie schüttelte den Kopf. »Als Nonne dürfte sie kaum gutheißen, dass ich einen gefallenen Engel liebe. Sie wird mich bestimmt nicht mögen. Bitte, Jean, geh allein und lass mich Sacré-Cœur besichtigen. Wir treffen uns dann hier vor dem Eingang wieder.«
»Das kann aber eine Weile dauern«, gab er zu bedenken. Die zusammengezogenen Brauen verrieten, dass er nicht viel
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