Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
altehrwürdige Bauwerke wie Notre-Dame klein und filigran ausnahmen. Einzig die Kuppel des Panthéon wirkte neben ihnen nicht völlig verloren. Nichts schien sich seit ihrem letzten Besuch verändert zu haben. Selbst der warme Sommerwind wehte hier oben, während sich die Luft unten in den Straßen keinen Hauch rührte. War Rafe tatsächlich hier?
Sophie beschloss, den Turm zu umrunden. Wenn sie ihn hier nicht sah, konnte er immer noch auf der anderen Seite auf sie warten – der Seite der Engel, wie sie feststellte, als sie sich mit dem zähen Fluss der anderen Besucher treiben ließ. Als Relief gearbeitete Engelfiguren schmückten den Glockenturm, der am hinteren Ende der Kirche gen Himmel strebte. Davor stand eine türkis leuchtende Statue des Erzengels Michael auf dem Dach, das Schwert in ein besiegtes Ungeheuer gebohrt, die Flügel ausgebreitet, eine Fahne triumphierend gereckt. Der siegreiche Streiter wider das Böse. Sie wünschte, sie hätte Rafe sehen können, als er eine so prächtige Erscheinung gewesen war.
»Vielleicht kann ich dafür sorgen, dass es wahr wird.«
Verwundert drehte sie sich nach der Stimme um, die sie nicht kannte. Das Herz gefror ihr in der Brust. Er trug keine Sonnenbrille, doch das düstere Gesicht hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt.
Die kleine romanische Kirche hatte einst zu einem Benediktinerinnenkloster gehört, bevor sie unter den Wirren der Zeit gelitten hatte und schließlich während der Revolution entweiht worden war. Jean fand, dass sie den Umbauten und Renovierungen zum Trotz noch immer mittelalterliches Flair bewahrt hatte. Die schlichten Gewölbe und Rundbögen erinnerten ihn an die alte Kirche seiner kleinen Heimatstadt, die er als Kind jeden Sonntag mit seiner Familie besucht hatte. Auch die Tatsache, dass Adelaide von Savoyen, die erste Äbtissin des im 12. Jahrhundert gegründeten Klosters, hier begraben war, stellte eine Verbindung zur fernen Vergangenheit her, obwohl es das Kloster längst nicht mehr gab. Nur Schwester Adelaide, die eigentlich einem anderen Konvent angehörte, kam an drei Vormittagen der Woche her, um ihrer Namensvetterin und des verlorenen Ordenshauses zu gedenken. Meist kniete sie in einer der vorderen Bankreihen und war ins Gebet zur Mutter Gottes vertieft.
Schon beim Eintreten entdeckte Jean die Gestalt in der schwarzen Ordenstracht mit dem dunklen Schleier am gewohnten Platz sitzen. Seine Schritte auf dem Mittelgang hallten lauter, als ihm lieb war, doch im Wispern und Schlurfen der Touristen, von denen sich stets einige nach der Besichtigung von Sacré-Cœur auch in dieses Gotteshaus verirrten, fiel es nicht so sehr auf. Je näher er der Nonne kam, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Schwester Adelaide war eine gebeugte Frau, der er das Alter bei jedem Besuch deutlicher angesehen hatte. Wer auch immer dort saß, war zu groß, hielt sich zu aufrecht und die Schultern zu straff. Hatte es eine jüngere Freundin übernommen, die Sentimentalität der Älteren fortzusetzen, weil Adelaide krank geworden war?
Enttäuscht und besorgt blieb er neben der Bank stehen. »Entschuldigen Sie bitte …« Er brach ab, als die Gestalt ihm das von der weißen Barbe umrahmte Gesicht zuwandte. Die zarte, helle Haut konnte das Strahlen darunter kaum verbergen. »Geneviève!«
»Schsch!« Sie legte einen Finger an die Lippen und lud ihn mit der anderen Hand ein, sich zu setzen.
»Was machst du hier? Wo ist Schwester Adelaide?«, fragte er leise. Ihr mitfühlender Blick ließ ihn die Antwort ahnen.
»Schwester Adelaide hat ihre sterbliche Hülle abgestreift und diese Welt verlassen. Sie ging vor zwei Wochen, friedlich, im Vertrauen auf unsere Führung und die Liebe ihres Herrn.«
Jean wusste nichts zu erwidern. Nach dem Tod seiner Tante war Adelaide die letzte Frau gewesen, die er als eine Art Mutter empfunden hatte. Sie würde ihm fehlen. Schwer zu fassen, dass er zwei Wochen lang nichts bemerkt hatte. Das Leben war einfach weitergegangen wie immer. Hätte er den Verlust nicht auf irgendeine Weise spüren müssen?
»Hör auf, dich zu quälen«, riet Geneviève und berührte seine Hand.
Licht und Wärme schienen in ihn überzufließen, lösten Anspannung und innere Verhärtung auf. Rasch zog er die Hand weg, bevor ihn das Gefühl überwältigen konnte. Das fehlt noch, dass ich hier in Tränen ausbreche. Er würde Adelaides Grab besuchen, sobald die leidige Geschichte um Lilyth und Sophie ihm Zeit dazu ließ. »Du weißt
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