Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
abschließen.«
»Sehr witzig. Hast du eine Rasierklinge hier, damit wir mal ausprobieren können, was du mit links so alles hinbekommst?«
Alex grinste. »So mies, wie du drauf bist, scheint es wehzutun. Ich verzichte mal lieber. Ist nicht jeder zum Märtyrer geboren.«
Jean brummte nur, weil ihm keine schlagfertige Antwort einfiel. Seine Hand war tatsächlich nicht nur in einen Verband, sondern auch in dumpfen Schmerz gehüllt, und in der Wunde pochte es. Die Krankenschwester hatte ihn dafür bewundert, dass er in die Klinge gegriffen hatte, um Lilyth von einem Selbstmord abzuhalten, aber die behandelnde Ärztin war vor allem entsetzt über den Zustand des Mädchens gewesen. Er rechnete damit, dass sie ihm die Schuld geben und weiteren Kontakt unterbinden würde. Was nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber leider auch nicht hilfreich war, falls sich der Dämon nur vorübergehend zurückgezogen hatte.
»Was passiert jetzt eigentlich mit der Königin der Nacht?« Alex schien in eine ähnliche Richtung gedacht zu haben.
Es gehörte zu den Dingen, die Jean an ihm mochte, dass sie oft die Gedanken des anderen aufgriffen. Wie ein altes Ehepaar. »Gaillard hat versprochen, sich der Sache anzunehmen. In der Klinik werden sie kaum zulassen, dass er die Gelegenheit zu weiteren Exorzismen bekommt, aber er kennt diesen Psychiater, der schon öfter mit ihm zusammengearbeitet hat. Der soll Kontakt zu den Eltern aufnehmen, und die sind vielleicht …« Er brach ab, weil sein Handy klingelte. »Das könnte er sein.« Automatisch wollte er mit der Linken seinen Mantel greifen, was neuen Schmerz durch seine Hand jagte, obwohl der Verband kaum eine Bewegung zuließ. Knurrend wühlte er sich mit der Rechten zu der Tasche vor, in der das Handy steckte, und zog es heraus. Das Display meldete Sophie. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? »Sophie, was gibt’s?«
Alex hob vielsagend die Brauen, und Jean sah rasch in eine andere Richtung, um nicht noch mehr Grimassen zu provozieren.
»Salut, Jean.« Ihre Stimme klang etwas brüchig, aber das konnte auch an der Verbindung liegen. »Ich … müsste noch mal mit dir reden. Hast du Zeit?«
»Jetzt gleich?«
»Nur, wenn es keine Umstände macht.«
Also ist es dringender, als sie zugeben will. »Ich bin bei Delamairs. Willst du vorbeikommen?«
»Ja, gut. Danke! Bis gleich!«
Die Verbindung war bereits unterbrochen, bevor er etwas erwidern konnte.
»Kommt sie her?«, erkundigte sich Alex.
Jean nickte nur. Er fragte sich immer noch, worin der Zusammenhang zwischen Sophie und den Machenschaften bestand, in die Lilyth verstrickt war.
»Dann lass ich euch wohl besser allein. Ein Mann weiß ja, wann er stört.« Alex klappte den Laptop zu und stopfte ihn in eine Umhängetasche.
»Aber lass mir die Kopien dieser Seiten da!«, rief Jean ihm nach, als er schon an der Treppe war.
»Stick liegt auf dem Schreibtisch«, antwortete sein Freund, doch er hörte schon wieder nur mit einem Ohr zu. Sammael selbst konnte nicht beteiligt sein, denn wie alle der zweihundert Wächter war er bis zum Ende der Zeit in ein unwirtliches Gefängnis gebannt. Bediente sich ein anderer mächtiger Dämon nun dieses Namens? Oder irrte das Buch Henoch, und die Wächter waren längst wieder frei? Wenn er nur endlich einen besseren Hinweis bekäme …
»Ich muss noch mal weg!«, rief Sophie ins Schlafzimmer, wo Madame Guimard mit ihren Reisevorbereitungen beschäftigt war. »Schönen Abend!«
Sie sah gerade noch, wie die alte Dame überrumpelt aufblickte, dann war sie schon auf dem Weg zur Wohnungstür.
»Äh, dir auch!«, tönte es hinter ihr her.
Um den Anschein zu wahren, polterte sie rasant die Treppe hinab, obwohl sie nur so eilig getan hatte, um sich Erklärungen zu ersparen. Es war ihr unangenehm genug, dass Madame Guimard nach ihrer Rückkehr aus dem Laden zweifellos die gerötete Nase und verheulten Augen bemerkt hatte. Vielleicht glaubt sie jetzt, dass ich zur Versöhnung mit meinem Freund unterwegs bin.
Auf der Straße ging Sophie wieder langsamer. Obwohl es Abend wurde, hatte es bislang kaum abgekühlt. Es war eher noch schwüler geworden, doch Gewitterwolken waren nicht in Sicht. Wo Rafe wohl gerade steckte? Besser nicht an ihn denken! Vielleicht zog sie damit seine Aufmerksamkeit auf sich, und Jean legte sicher keinen Wert darauf, dass sie ausgerechnet Rafe mitbrachte.
Zum Glück hatte sie es nicht weit in die Rue Saint-Jacques. Im hinteren Teil des Ladens brannte noch Licht,
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