Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
von der Idee hielt.
»Das macht nichts. Lass dir Zeit! Ich werde zur Kuppel hinaufsteigen und die Aussicht genießen. Man kann von dort oben fast so weit sehen wie vom Eiffelturm.«
Spöttisch deutete er ein Lächeln an. »Das ist mir bekannt. Ich bin nicht zum ersten Mal in Paris.«
Sophie verdrehte nur die Augen. Es kam ihr hinterhältig vor, ihn wegzuschicken und nach der Lösung für ihr Problem suchen zu lassen, aber der Moment auf dem Turm hatte Rafe und ihr so viel bedeutet. Sie musste hinauf.
»Also schön, wenn du so viel Angst vor einer alten Frau hast.« Er zuckte die Schultern. »Aber beschwer dich hinterher nicht bei mir, dass ich diese oder jene Frage nicht gestellt habe!«
Der Einwand war berechtigt. Sollte sie nicht doch besser mitgehen? Das Gefühl, sie werde erwartet, wuchs. »Nein, keine Vorwürfe. Versprochen!«
»Dann bis gleich.«
»Das ist wirklich lieb von dir, Jean. Danke!« Sie sah ihm nach, bis sie es nicht mehr aushielt zu warten, und ging direkt zu der Treppe, die links neben der Kirche zum Eingang der Krypta hinabführte. Im Schatten des hohen Gebäudes war es wenigstens ein bisschen kühler. Dennoch hatten alle, die vor der Kasse anstanden, schon jetzt schweißfleckige Kleidung. Sophie fragte sich, wie das übergewichtige Ehepaar vor ihr die auf einem Schild warnend angekündigten dreihundert Stufen bewältigen wollte. Die beiden hatten bereits Schwierigkeiten, durch das Drehkreuz des Zugangs zu kommen.
»We should give them a good advance«, riet der drahtige kleine Mann hinter ihr seinem Begleiter. Ihnen einen Vorsprung zu lassen, war vermutlich eine gute Idee, aber sie konnte nicht warten, bis sich jemand beschwerte, weil es nicht weiterging. Stattdessen stieg sie die Wendeltreppe langsam nach oben, blieb immer wieder stehen und lauschte auf das Schnaufen und die atemlosen Kommentare in einer fremden Sprache über ihr. Selbst bei diesem Wetter strahlten die dicken Steinwände noch Kälte aus.
Sie hatte längst aufgegeben, die Stufen zu zählen, als sie überraschend schnell das vermeintliche Ende des Aufstiegs erreichte. Doch es war nur eine Zwischenstation. An einem Geländer entlang ging es aus dem linken Seitenturm über das steinerne weiße Dach zum Hauptturm. Sophie nutzte die Gelegenheit, das Paar zu überholen, das mit roten Gesichtern am Treppenabsatz stand und sich mit Taschentüchern den Schweiß von den Stirnen wischte. Auch über das Dach ging es aufwärts, denn der Eingang zum Hauptturm lag ein Stück oberhalb. Erst jetzt, da sie wieder in luftiger Höhe über das Gebäude spazierte, erinnerte sie sich an diese Unterbrechung, hatte Rafes Lachen wieder im Ohr und seinen Vortrag aus dem Reiseführer, der von byzantinischen Einflüssen sprach.
Hinter einem schmalen Durchlass begann eine neue Wendeltreppe, die ihr kaum breit genug für sich selbst vorkam. Wie gut, dass Auf- und Abstieg streng voneinander getrennt waren. Wäre ihr jemand entgegengekommen, hätte sie wieder umdrehen müssen. So hörte sie nur das Schaben von Schritten über sich, keuchendes Lachen und angestrengtes Atmen. Mit jeder Stufe wurden ihre Beine schwerer. Warum musste sie ausgerechnet am drückendsten Tag des Jahres den zweithöchsten Punkt der Stadt erklimmen? Schweiß rann ihr den Nacken und die Beine hinab. Endlich spürte sie einen leichten Luftzug, dann hatte sie den Säulengang direkt unterhalb der Kuppelerreicht.
Orientalisch anmutende Reliefe, die jedoch auch etwas Ähnlichkeit mit geflochtenen keltischen Ornamenten hatten, verzierten das wetterdunkle, stellenweise fast schon schwarze Gestein auf der Innenseite. Umso deutlicher hoben sich die zahllosen Namen und Daten, Herzen und Kreuze hell davon ab, die Besucher eingeritzt hatten und dabei wieder auf Weiß gestoßen waren. Andere hatten sich weißer Kreide bedient, um sich an diesem Ort zu verewigen. Der Gang selbst war schmal, gerade breit genug, dass zwei Menschen aneinander vorbeigehen konnten.
Zu beiden Seiten erspähte Sophie etliche Touristen, doch Rafe war nicht darunter. Sie trat an das steinerne Geländer, das ihr bis zur Hüfte reichte, und blickte zwischen zwei offenbar gereinigten, hellen Säulen hindurch. Unter dem diesigen Himmel erstreckte sich bis zum Horizont ein einziges Häusermeer. Rechter Hand entdeckte sie den Eiffelturm, der wie ein Pfeil nach oben wies. Davor ließ sich ein Stück vom Band der Seine erahnen, das sich durch die Stadt schlängelte. Weit im Süden ragten viele Hochhäuser auf, gegen die sich
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