Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
wissen, wohin sie unterwegs war.
Nur zwei Minuten bis zum nächsten Zug. Ihr Blick wanderte zwischen der Anzeigetafel und dem Ausgang der Röhre, durch die sie gekommen war, hin und her. Bei jedem dunklen Schuh samt Hosenbein, die in Sicht kamen, zuckte sie zusammen, bis der Rest des Besitzers um die Ecke war. Ein Rauschen kündigte die nahende Bahn an. Die vornehmlich in Weiß und Pastellfarben gekleidete Seniorengruppe quoll aus dem Gang. Sophies Magen verkrampfte sich. Als ob der Sog der einfahrenden Métro sie ergriff, bewegte sie sich über den Bahnsteig, nur weg von der Stelle, an der in diesem Moment ihr Verfolger erschien. Sie schlängelte sich zwischen den Einsteigenden hindurch, drängelte sich immer noch eine Tür weiter, bis sie fürchtete, die Türen könnten schließen und sie allein mit dem Fremden zurücklassen.
Die Métro war voll, aber nicht überfüllt. Sophie konnte den ganzen Waggon überblicken. Es gab keine Sitzplätze mehr, und ein kleiner, milchkaffeefarbener Junge mit großen, dunklen Augen bettelte gestenreich. Seine Berührung war leicht wie die eines Schmetterlings, seine Stimme kaum zu hören. Sophie wehrte ihn schweren Herzens ab und bedeutete ihm, weiterzugehen. Wahrscheinlich wartete ohnehin jemand auf ihn, um ihm die milden Gaben sofort wieder abzunehmen. An der nächsten Station, dem Knotenpunkt Châtelet, stieg er wieder aus. Dafür schwang sich mit etlichen weiteren Fahrgästen ein Akkordeonspieler herein, der sogleich eine beschwingte Melodie anstimmte. Nichts hätte schlechter zu Sophies Stimmung gepasst.
In Pont Neuf stürmte sie aus dem Zug, sobald die Türen zur Seite glitten, doch dann blieb sie mitten im Gedränge stehen. Sie wollte nicht an anderen Waggons vorbeilaufen und von diesem Kerl gesehen werden, solange er noch schnell aus der Métro springen konnte. Erst als der Zug anfuhr, schloss sie sich den Touristen an, die aus dem Untergrund emporquollen, um über die älteste Brücke der Stadt zu flanieren. Es war ungewohnt erleichternd, wieder ans grelle Sonnenlicht und die frische Luft zu kommen. Für gewöhnlich machte es ihr nichts aus, die Métro zu benutzen, aber heute schien nichts wie sonst zu sein.
Verstohlen blickte sie sich um, während sie in einem Aussichtshalbrund an das weiße Steingeländer der Pont Neuf trat. Es ähnelte unangenehm jenem der Pont de la Tournelle, über das sie nur zwei Nächte zuvor geklettert war. Sogar ein ähnliches Sims samt metallener Kabelabdeckung verlief davor. Schaudernd wich sie ein wenig zurück. Um sie herum keine Spur des Kerls mit der Sonnenbrille. Sie horchte in sich hinein, ob sie sich beobachtet fühlte, doch ihre Nerven flatterten noch zu sehr, als dass sie es mit Sicherheit hätte sagen können. Wer der Unbekannte auch sein mochte, sie hatte ihn wohl endlich abgeschüttelt.
Zeit, sich wieder auf die Schiffe zu konzentrieren. Am rechten Seineufer ragten auch hier nur Banner und Sonnenschirme anstelle von Masten und Flaggen auf. Stromabwärts konnte Sophie bis zum Louvre blicken, ohne ein einziges Boot zu entdecken, stromaufwärts näherte sich dagegen eines der Ausflugsschiffe, die unter der Mitte der Brücke, an der Spitze der Île de la Cité an- und ablegten. Es war zu groß und zu neu, um infrage zu kommen, aber es tröstete sie, überhaupt wieder ein Schiff zu sehen.
Während die Touristen Fotos von den mittelalterlichen Türmen der Conciergerie schossen, die aus dieser Perspektive die Insel dominierten, beschloss Sophie, ihren ursprünglichen Plan zu ändern und die Suche jenseits der Brücke auf dem linken Seineufer fortzusetzen. Ob sie nun auf dieser oder jener Seite bis zum Eiffelturm lief, um dann auf der anderen zurückzukehren, spielte keine Rolle, aber hier sah es im Moment einfach zu frustrierend aus, um überhaupt weiterzumachen.
Am anderen Ende der Pont Neuf erwartete sie eine Pariser Postkartenidylle. Wie sie es in Erinnerung hatte, lagen unten am Wasser etliche Schiffe hintereinander aufgereiht. Spaziergänger schlenderten an ihnen vorüber, und dahinter erhob sich die gemauerte Uferbefestigung, von der Treppen hinabführten. Oben an der Straße hatten die Bouquinisten im Schatten der Bäume ihre dunkelgrünen Stände geöffnet. Wehmut wallte in Sophie auf. Wie viel Spaß hatten Rafe und sie dabei gehabt, die alten Bücher und Zeitschriften, die Souvenirs und Gemälde nach etwas Brauchbarem zu durchstöbern! Sie hatten über Aktpostkarten der Goldenen Zwanziger gelacht, einem Aquarellmaler
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