Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
lassen, gibt es sicher eine Erklärung dafür. Ich kann …« Sie brach ab, als er sie an der Schulter berührte und sanft zum Weitergehen drängte.
»Das ist nicht der richtige Ort, um über diese Dinge zu sprechen.«
Obwohl er leise und freundlich sprach, lag etwas in seiner Stimme, das ihre Begeisterung dämpfte. Er klang so bestimmt, dass sie ihren Weg fortsetzte und mit ihm den Place de la Contrescarpe überquerte. Aus der Bar, in der sie gewartet hatte, drang noch gedämpfte Musik. Auch wenn sich immer noch Leute auf der Straße herumtrieben, war es sehr viel leerer geworden, sodass sie froh war, nicht allein nach Hause gehen zu müssen. Doch die ernste Miene ihres schweigenden Begleiters beunruhigte sie von Minute zu Minute mehr.
»Warum freuen Sie sich so gar nicht mit mir? Was ist es, das Sie mir nicht sagen wollen?«
Er sah sie bedauernd an. »Sie sollten sich nicht zu früh freuen. Es mag den Anschein haben, als hätten Sie Ihren Verlobten wiedergefunden, aber die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.«
»Sie sprechen schon wieder in Andeutungen«, beschwerte sie sich gereizt.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor der undeutbare Ausdruck zurückkehrte. »Und Sie sprechen schon wieder das Offensichtliche aus.« Er hob abwehrend die Hand, als sie den Mund zu einer ungehaltenen Antwort öffnete. Seine Stimme wurde so leise, dass sie sich anstrengen musste, um ihn über ihrer beider Schritte hinweg zu verstehen. »Bis jetzt war er für mich nur einer von vielen. Ich werde versuchen, mehr über die Angelegenheit in Erfahrung zu bringen.«
M ontag! Noch nie hatte Sophie so gut verstanden, warum manche Leute Montage hassten. Nach nur drei Stunden Schlaf war ihr Magen verstimmt, ihr Mund ausgetrocknet – egal, wie viel sie trank –, und der Kopf brummte, als wäre sie volltrunken ins Bett getorkelt. Bestimmt sah sie grauenhaft aus. Madame Guimard hatte sie beim Frühstück missbilligend gemustert, aber nichts gesagt. Sophie war ihr dankbar dafür. Sie wollte die alte Dame nicht belügen, hätte aber nicht gewusst, was sie ihr erzählen sollte. Dass sie ihrem tot geglaubten Verlobten in abgelegene Gassen gefolgt war, wo er Streitigkeiten unter Gangstern ausfocht? Dass sie von einem Kerl in einen dunklen Hauseingang gezerrt worden und vor Angst fast gestorben war? Oder dass sie nicht wusste, wer dieser Mann eigentlich war, und sich dennoch heute Abend wieder mit ihm treffen wollte? Nein, die Wahrheit kam nicht infrage.
In der Mittagspause machte sie als Erstes ihr Handy an, das sie hatte ausschalten müssen, um den Akku zu schonen. Das Aufladen hatte sie wie immer vergessen. Keine Nachricht von Jean Méric. Einerseits war es gut, weil es wohl bedeutete, dass es bei ihrer Verabredung blieb. Andererseits kam ihr die vergangene Nacht so unwirklich vor, dass sie einen Beweis dafür brauchen konnte, dass alles nicht nur ein weiterer böser Traum gewesen war.
»Oh, là, là! Dein neuer Freund hält dich wohl ganz schön auf Trab, was?«, neckte Francesca, als sie Sophies enttäuschtes Gesicht sah.
Sophie grinste, um Zeit zu gewinnen. »Ja, ich hab nicht viel Schlaf bekommen.«
»Das ist nicht zu übersehen«, meinte Tereza kichernd. »Erzähl doch mal! Ist er Franzose?«
Francesca verdrehte die Augen. »Was soll er denn sonst sein? Chinese?«
»Warum nicht?«, verteidigte sich Tereza. »Sie wohnt im Quartier Latin! Da wimmelt es von Touristen und ausländischen Studenten.«
»Ja, volltrunkene Engländer mit dem Charme einer Bierflasche. Bäh!« Die Italienerin winkte ab. »Oder Deutsche, bei denen der romantischste Satz noch wie ein Marschbefehl klingt … Oh, scusi, du bist ja Deutsche. Bei dir vergess ich das immer.«
Sophie beschloss, dass ihre gebeutelte Seele dringend einen emotionalen Schokoriegel brauchte, und zog Rafes Foto aus ihrem Portemonnaie.
Francesca riss es ihr förmlich aus den Fingern. »Das ist er? Che bello! Könnte fast ein Italiener sein.«
»Zeig her!«, forderte Tereza und drängte sich an ihre Freundin, um einen besseren Blick zu bekommen. »Italiener? Pah! Vielleicht auf einem Gemälde von Michelangelo, aber nicht in echt.«
»Er ist Deutscher und heißt Rafael«, warf Sophie ein.
»Nie im Leben!«, beharrte Francesca.
»Rafael? Wie in dem Lied von Carla Bruni?« Tereza lächelte versonnen das Foto an, was Sophie ein unangenehmes Gefühl bereitete. Sie wusste immer noch nicht sicher, ob Rafe tatsächlich lebte, und es war eine Sache, einen
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