Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Jean nachts in einer schlechten Gegend aufgegabelt hatte, aber dann würde das Telefon nicht mehr still stehen. »Mit einem gebildeten jungen Franzosen, der Rafael kennt.« Zwei Spitzen in einem Satz. Das musste genügen. »Tschüs, Mama. Grüß Papa von mir!«
Sie legte auf, bevor ihre Mutter antworten konnte. Matthias Katz – war das zu fassen? Matz Katz, wie sie ihn seit dem Kindergarten nannte, hatte mit fünfundzwanzig schon einen Bierbauch und redete von nichts anderem als seinem mit Spoilern aufgemotzten 3er BMW, in dem ein ganzes Bündel Wunderbäume vom Rückspiegel baumelte. Ihr ist wohl alles recht, wenn ich nur in Hedelfingen wohnen bleibe. Und Matz Katz würde bestimmt niemals dort wegziehen.
Sophie wusste immer noch nicht, was sie von Jean Méric halten sollte. Auf dem Weg zu ihrer Verabredung rätselte sie erneut, was er wohl mit Rafe zu tun hatte. War er Kriminalbeamter oder arbeitete für die Staatsanwaltschaft? Die Nähe zum Justizpalast am Quai des Orfèvres auf der Île de la Cité, wo schon Simenons berühmter Roman-Kommissar Maigret ermittelt hatte, beflügelte ihre Phantasie. Etliche Spezialeinheiten sollten dort ihren Sitz haben. Ein Jurastudium hätte auch gut zu ihm gepasst. Nicht umsonst hatte sie ihn am Telefon als gebildet bezeichnet. Seine Aussprache und die Wortwahl hatten ihr verraten, dass er eine höhere Schule besucht haben musste, wenn nicht sogar eine Uni. Na ja, im Grunde kann es mir egal sein, solange er mir hilft, diese seltsame Geschichte zu verstehen, sagte sie sich und betrat den Place de la Contrescarpe.
Wie offenbar jeden Abend ging es rund um den Platz geschäftig zu. Sophie konnte kaum einen Unterschied zum Sonntag feststellen, außer dass ein wenig öfter ein Auto die Fußgänger von der Fahrbahn scheuchte. Was ihr jedoch sofort ins Auge stach, waren vier Polizisten in leuchtend hellblauen Hemden. Dass die Pariser Gendarmerie viel Präsenz zeigte, war ihr schon öfter aufgefallen. Ihr war, als würde bei der Auswahl der Beamten ein bestimmter Typ Franzose bevorzugt: mittelgroß, drahtig und in der Uniform schneidig anzusehen. Dass sie sich alle das meist braune Haar kurz scheren ließen, trug zum einheitlichen Eindruck bei. Nur die Frauen fielen durch Pferdeschwänze oder mittlere Haarlängen auf.
In diesem Fall blieb Sophies Blick allerdings nicht lange an den beiden Polizisten und deren zopftragender Kollegin hängen, die ein paar Schritte vor dem kleinen Lokal standen, in dem sie verabredet war. Stattdessen wanderte er zu dem vierten Beamten weiter, der mit einem der Gäste sprach. Verunsichert hielt sie inne. Der Mann, mit dem sich der Gendarm unterhielt, war Jean Méric.
Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen. So spannend die Vorstellung, Jean habe mit der Polizei zu tun, eben noch gewesen war, so wenig Lust verspürte sie, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden, falls er sich aus ganz anderen Gründen in der Pariser Unterwelt auskannte. Die Mienen der wartenden Beamten verhießen nichts Gutes. Sie schienen ungeduldig und bedachten Jean mit finsteren Blicken. Oder ärgerten sie sich nur, weil ihr Kollege sie aufhielt? Doch dieser wirkte locker, während Méric freundlich, aber ein bisschen angespannt aussah.
Allmählich kam sie sich dumm dabei vor, den über den Platz strömenden Menschen im Weg herumzustehen. Bestimmt würde sie jeden Moment den Polizisten auffallen, die sich dann fragten, weshalb sie sie anstarrte und sich so komisch benahm. Just als sie entschieden hatte, noch eine unverdächtige Runde um den Springbrunnen zu drehen, verabschiedete sich der Gendarm von Jean.
Sophie schlenderte trotzdem um die kleine, grüne Oase im städtischen Grau, bevor sie sich endlich in Jeans Nähe traute. Auch er sollte nicht merken, dass sie gewartet hatte, bis die Polizei abgezogen war. Oder hatte er sie bereits entdeckt? Offenbar nicht, denn er blickte ihr nicht entgegen.
Es war merkwürdig, ihn zum ersten Mal bei Tag zu sehen – als würde eine Figur aus einem Schwarzweißfilm plötzlich im echten Leben auftauchen. Sein Haar und der Dreitagebart waren dunkelblond, der Teint leicht gebräunt, aber vom Schlafmangel gezeichnet. Die Ärmel des weiten, anthrazitfarbenen Hemds hatte er aufgekrempelt, und seine Beine steckten in einer schwarzen Jeans, unter der ebensolche Socken und Lederschuhe hervorlugten. Gerade fischte er nach etwas in seiner Brusttasche, ließ aber sofort davon ab, als Sophie an seinen Tisch trat. Er sprang förmlich auf
Weitere Kostenlose Bücher