Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
hatte er in seinem Beruf lediglich gelernt, es besser zu verbergen als andere, damit sich die Irren beim Verhör angenommen fühlten und alles erzählten.
Er griff über den Tisch nach ihrer Hand und strich mit dem Daumen darüber. Es fühlte sich gut und tröstlich an, doch sie wollte sich nicht einlullen lassen. Womöglich war er nur darauf aus, Drogenhändlern auf die Spur zu kommen, und hielt Rafe für einen ihrer Komplizen.
»Er war Arzt.« Abrupt entzog sie ihm ihre Hand. »Nicht weil er es auf Geld oder Prestige abgesehen hatte, sondern aus Berufung. Kolumbien war nicht sein erster humanitärer Einsatz, er hat sich schon als Student immer wieder an medizinischen Hilfsprojekten beteiligt. Nannte es einen guten Vorwand, um die Welt zu bereisen. Wir hatten sogar vor, für ein paar Jahre auszuwandern und …« Ihre Kehle wurde eng.
»Glauben Sie an Gott?«
Verwundert blickte Sophie auf. »Nein … na ja … Dieses ganze Gerede vom lieben Gott ist doch eher etwas für Kinder. Ich weiß nicht. Wenn es einen Gott gäbe, hätte er Rafe nicht sterben lassen.« Sie nahm nur am Rande wahr, dass Jean verständnisvoll nickte. Aber wenn Rafe lebt … Sie hatte ihn gesehen. Wenn es wahr wäre, dass er sich nur aus irgendeinem Grund verstecken musste, vielleicht gab es dann doch einen Gott.
»Sind Sie katholisch oder protestantisch?«, wollte Jean wissen.
»Äh.« Was hatte das mit Rafe zu tun? »Ich bin katholisch getauft worden, aber in meiner Familie haben wir es nicht so mit der Kirche. Warum?«
»Nur aus Interesse«, antwortete er etwas zu schnell. »Hier in Frankreich ist man sehr katholisch, wissen Sie? Da macht man sich so seine Gedanken über Gott und das Sterben und all das.«
»Ich gebe zu, dass ich mir nicht viele Gedanken darüber gemacht habe, bevor Rafe … bevor er verschwunden ist.«
»Und jetzt sind Sie dem Thema gegenüber aufgeschlossener?«, hakte Jean nach.
»Irgendwie schon. Aber was bringt es, mich zu fragen, was nach dem Tod kommt oder ob das Ganze einen Sinn hat, wenn es mir niemand verraten kann? Das Gerede des Priesters bei der Beerdigung war schrecklich! Als hätten wir den schlimmsten Sünder auf Erden zu Grabe getragen. Das hatte alles nichts mit Rafe zu tun.«
Jean lächelte – über ihren Eifer? Oder ihren Unglauben? Sie konnte es nicht einschätzen.
»Sagen Sie, haben Sie noch Fragen, die mehr mit meinem Anliegen zu tun haben?«
Er schob seinen Teller ein Stück von sich, und ihr fiel auf, dass sie über dem Gespräch kaum wahrgenommen hatte, wie er ihn geleert hatte. »Nein.«
»Oh. Dann …« Es kam so unvermittelt, dass sie nichts mehr zu sagen wusste. »Und wie geht es jetzt weiter?«
Belustigt zuckte er die Achseln. »Wir trinken einen Kaffee?«
»Sie sind unmöglich!«, lachte Sophie. »Sie wissen genau, was ich gemeint habe.«
»Hat’s geschmeckt?«, mischte sich Marie ein und räumte das Geschirr ab.
»Ja, sehr gut, danke.« Sie bemühte sich, es wirklich begeistert zu sagen, um den ungegessenen Rest Lügen zu strafen. Jean bestellte Kaffee, und sie schloss sich an.
»Heißt das nun, dass Sie sich Ihr Urteil über mich gebildet haben, oder nicht?«, bohrte sie weiter. Sie konnte nicht leugnen, dass sie ihn irgendwie mochte, aber unter der Sympathie lagen ihre Nerven noch immer blank.
»Es geht nicht darum, ein Urteil über Sie zu fällen, Sophie«, erklärte er ernst. »Das maße ich mir nicht an. Ich versuche nur einzuschätzen, wie viel Wahrheit Sie vertragen können und ob Sie mir überhaupt glauben würden, wenn ich sie Ihnen erzähle. Die wenigsten Menschen können mit den Dingen umgehen, mit denen ich mich beschäftige, deshalb verdrängen sie, dass es sie gibt. Es ist manchmal leichter, etwas nicht zu genau zu wissen, um unbefangen weiterleben zu können.«
»Also wenn Sie jetzt von menschlichen Abgründen sprechen, halte ich das für übertrieben. Im Fernsehen werden uns doch tagtäglich die schlimmsten Verbrechen vorgeführt.«
»Glauben Sie mir, es ist ein großer Unterschied, ob man das Böse nur auf einem Bildschirm sieht oder ihm leibhaftig begegnet.« Er sagte es mit solcher Überzeugung, dass sie schauderte. War Rafe in so Schreckliches verwickelt, oder sah sie nur so zartbesaitet aus, dass Jean ihr Details ersparen wollte?
Marie servierte zwei dampfende Tassen. Der Kaffeeduft verbreitete eine anheimelnde Atmosphäre, doch Sophie war nicht in der Stimmung, sie zu genießen. »Ich will alles erfahren. Ich habe ein Recht darauf, weil
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