Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
mein Leben zerstört wurde.«
Halb erwartete sie Widerspruch, aber Jean nickte. Wieder trat der verbitterte Zug um seinen Mund hervor. »Einverstanden. Geben Sie mir nur noch bis morgen Zeit. Ich werde mich heute Abend mit jemandem treffen, der mehr über die Angelegenheit weiß als ich.«
»Ich will mitkommen! Ich kann nicht noch einen Tag – und eine Nacht – mit dieser Ungewissheit leben.«
»Sie wissen ebenso gut wie ich, dass Sie das können, Sophie«, erwiderte er so nüchtern, dass sie sich albern vorkam. »Gehen Sie nach Hause und lassen Sie …«
Seine ohnehin leise Stimme erreichte ihre Ohren nicht mehr. Ihr Herz stockte.
A demain, Sophie!« Jeans Worte drangen kaum mehr in ihr Bewusstsein als Durchsagen zwischen Kaufhausmusik.
»Ja.« Sie blickte kurz zu ihm auf, ohne ihn wirklich anzusehen. »Ja, bis morgen dann.« Ein Teil von ihr registrierte, dass er wegging, doch gegen Rafes Anblick verblasste es zur Bedeutungslosigkeit. Wie konnte er dort zwischen den Gästen des benachbarten Cafés sitzen und sich mit neuen Bekannten unterhalten, als wäre nichts, während sie – die trauernde Beinahe-Witwe – sich seinetwegen fast in die Seine gestürzt hätte?
Sie fasste ihn genauer ins Auge. Es war noch hell genug, um ihn auf zehn, höchstens fünfzehn Metern Entfernung gut zu erkennen. Wenn dieser Mann ein Doppelgänger sein sollte, musste Rafes Familie ihr einen eineiigen Zwilling verschwiegen haben. Alles passte: das Haar, das gewinnende Lächeln, das nahezu makellose Gesicht, in dem nur die Nase einen Tick zu groß war, um es als klassisch schön zu bezeichnen.
Es tat weh. Jede vertraute Geste bereitete Sophie einen ziehenden Schmerz in der Brust.
Und doch gab es Unterschiede. In seinen Zügen blitzte immer wieder etwas Überlegenes, Herausforderndes auf, das sie nicht an ihm kannte. Rafe war eher bescheiden und zurückhaltend gewesen. Im engsten Freundeskreis hatte er offen und herzlich sein können, aber niemals hatte sie ihn so … so überheblich gesehen. Ja, das traf es. Zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, wirkte er selbstsicher bis zur Unverschämtheit. Wie er die anderen am Tisch taxierte, ihnen mit seiner Miene zu verstehen gab, dass ihr Geplapper ihn bestenfalls amüsierte …
Ihr wurde übel. Sie merkte erst, dass sie ihre Kaffeetasse umklammerte, als Marie neben ihr auftauchte.
»Geht’s dir nicht gut?«
Sophie riss sich zusammen. »Nein, schon gut. Kann ich dann bitte zahlen?« Hatte Jean überhaupt bezahlt? Sie konnte sich nicht daran erinnern.
»Was? Um Himmels willen! Jean kündigt mir die Freundschaft, wenn ich dir Geld abknöpfe. Das geht auf seine Rechnung.«
»Davon hat er aber nichts gesagt«, protestierte sie halbherzig.
»Glaub’s mir einfach.« Marie zwinkerte und trug Jeans Gläser und Tasse fort.
Sogleich kehrte Sophies Aufmerksamkeit zu Rafe zurück. Die Situation schien unverfänglich. Die Leute, mit denen er am Tisch saß, wirkten zwar nicht sympathisch – sie glaubte sogar, den Schmächtigen unter ihnen zu erkennen –, aber wenn sie sich als zufällig vorbeikommende alte Freundin ausgab, würde es Rafe doch sicher nicht in Schwierigkeiten bringen. Ihr Magen verkrampfte sich noch mehr. Nein, sie schaffte es nicht, einfach hinüberzugehen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie wollte ihn anschreien, ausflippen und heulen dürfen für das, was er ihr angetan hatte!
Jeans Warnung fiel ihr wieder ein. »Halten Sie sich von ihm fern! Jedes Wort, das Sie mit ihm wechseln, ist zu viel.« Warum? Er saß dort drüben wie ein ganz normaler Mensch, der nach Feierabend ausging. Weshalb durfte sie nicht einfach hinübergehen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen?
Sie starrte ihn so intensiv an, dass er es gespürt haben musste, denn plötzlich trafen sich ihre Blicke. Anstatt zu lächeln, zu grüßen, irgendetwas zu tun, konnte sie ihn nur wie versteinert ansehen. Er zog die Brauen ein wenig zusammen, dann wandte er sich wieder ab. Sophie zitterte. In seinen Augen hatte kein Funke Erkennen aufgeleuchtet. Nichts deutete darauf hin, dass er wusste, wer sie war. Ihr war so kalt, dass sie wünschte, sie hätte ihre Jacke mitgenommen. Das ist nicht möglich. Nicht möglich. Niemand kann so gefühllos und berechnend sein. Es sei denn, es hätte niemals Liebe zwischen ihnen gegeben. Doch das konnte erst recht nicht sein.
Ihr war schwindlig. Beinahe gewaltsam riss sie den Blick von Rafe los, der unbekümmert mit der einzigen Frau am
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