Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Oder Anwalt. »Woher soll ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann? Das setzen Sie einfach so voraus.«
Er zuckte die Achseln. »Ihnen bleibt nichts anderes übrig. Sie wollen schließlich etwas von mir, nicht umgekehrt.«
Daran war nicht viel zu rütteln. Sie konnte allein weitermachen, doch es war gefährlich, und da sich Rafe so unerwartet benahm, konnte sie nicht sicher sein, was geschehen würde, wenn sie ihm in einem unpassenden Moment in die Quere kam. »Na schön, ich gebe auf. Was wollen Sie wissen?«
»Wann ist Ihr Verlobter verstorben?«
Fehlt nur noch, dass er Papier und Bleistift zückt, um sich Notizen zu machen … »Angeblich am 11. April dieses Jahres.«
»Angeblich? Hatten Sie denn Grund zu der Annahme, dass er nicht tot sein könnte?«
»Nein, erst als ich am Freitagabend auf der Pont de la Tournelle stand und er unter mir auf einem Schiff vorbeifuhr.«
»Demnach sind Sie nicht nach Paris gekommen, um nach ihm zu suchen?«
Obwohl sie froh darüber war, wunderte sie sich über die Selbstverständlichkeit, mit der er ihre Worte hinnahm. Jeder andere hätte ihr einen Vortrag darüber gehalten, dass sie nur einen Doppelgänger gesehen haben konnte. »Wie ich schon sagte: Ich glaubte, er sei tot. Dass ich hier bin, hat eher … Ich hielt es einfach für eine gute Idee, alles zurückzulassen und mir in Paris einen Job zu suchen. Auslandserfahrung sammeln, Abstand gewinnen …« Sie wollte »neu anfangen« hinzufügen, weil es so schön ins Klischee passte, doch es wäre eine Lüge gewesen, deshalb verstummte sie und nippte erneut an ihrem Glas.
»Wenn Sie sicher waren, dass er tot ist, muss es Sie sehr überrascht haben, ihn hier zu sehen«, stellte Jean mitfühlend fest.
»Ja, es ist … bestürzend. Verunsichernd. Aber es weckt auch alle Hoffnungen, die ich begraben hatte.«
Er nickte. »Ich verstehe, dass Sie Gewissheit haben müssen. Sie wollen wissen, ob er Sie hintergangen hat oder das Schicksal nur einen grausamen Scherz mit Ihnen treibt.« Bitterkeit vertiefte für einen Augenblick die Falten um seinen Mund. Er spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter und sah Sophie wieder an. »Vielleicht bin ich der Einzige, der das für Sie herausfinden kann.«
Mehrere Fragen lagen ihr auf der Zunge, doch in diesem Moment kam Marie mit zwei vollgeladenen Tellern auf sie zu. Schwungvoll stellte sie einen mit Salat, gerösteten Brotkrumen und angeschmolzenem Ziegenkäse überhäuften Pfannkuchen vor Sophie ab. »Voilà, chèvre chaud.«
Heiße Ziege? Sophie musste schmunzeln. Solange sie nicht »heiße Zicke« genannt wurde …
»Jean, dieser Typ, der uns immer wieder Ärger macht …«, begann Marie, brach jedoch ab, als Jean sie scharf ansah und kaum merklich den Kopf schüttelte.
Glaubt er etwa, ich hätte das nicht gesehen? Sophie konnte kaum abwarten, bis Marie wieder außer Hörweite war. »Hatte das eben etwas mit Rafael zu tun?«
Es enttäuschte sie, dass er keineswegs ertappt aussah, nur interessiert. »Ihr Verlobter hieß Rafael?«
»Ja, Rafael Wagner. Der Mann, den ich verfolgt habe … Er nennt sich wohl anders«, vermutete sie und begriff nicht, warum es sie so niedergeschlagen machte. Sie hatte nicht ernsthaft erwartet, dass er seinen wahren Namen verwendete, wenn er untergetaucht war.
Jean lächelte wie über einen Witz, den nur er verstand. »Sie sollten essen, bevor der Käse kalt wird. Und nein, es ging nicht um den Mann, den Sie suchen.«
Schweigend machte sie sich über ihre Galette her. »Warum fragen Sie nicht weiter?«, erkundigte sie sich nach einer Weile.
»Um ehrlich zu sein, wollte ich Ihnen nicht den Appetit verderben«, behauptete er. »Aber wenn Sie darauf bestehen.«
Kauend sah sie ihn über den Tisch hinweg an, und er erwiderte schmunzelnd ihren Blick. »Tue ich«, forderte sie ihn heraus, aber sie musste dabei lächeln.
»Wie ist er gestorben?«
Sophie ärgerte sich über sich selbst, als ihr schlagartig der Appetit verging. Trotzig stocherte sie weiter im Salat herum, doch sie bekam kaum noch etwas herunter. »Er wurde erschossen.« Es befriedigte sie ein wenig, dass Jean offenbar mit etwas Unspektakulärerem gerechnet hatte, denn er hob überrascht die Brauen. »Zumindest haben das die kolumbianischen Behörden gesagt, und seiner Schwester – sie ist Ärztin – wäre wohl aufgefallen, wenn es keine Schussverletzungen an seiner Leiche gegeben hätte.«
Ich klinge völlig schizophren. Jean musste sie für verrückt halten. Wahrscheinlich
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