Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
Probleme also doch von selbst.
An der Kreuzung Rue Monge – Rue des Écoles wichen die hohen Häuser etwas zurück und ließen die Weite des Himmels erahnen, der Sophie in Paris seltsamerweise tiefer zum Boden herabzureichen schien als zu Hause. Zugleich wirkte er höher und weiter, als ob die Welt hier aus sehr viel mehr Himmel bestünde. Es ergab eigentlich keinen Sinn, aber der Eindruck war so stark, dass sie sich dadurch manchmal klein und verloren, manchmal aber auch erhaben und freier fühlte als in Deutschland.
Ihr Weg führte leicht bergauf, und es wurde ihr bewusst, dass sie sich am Fuß des Hügels der heiligen Genoveva befand, auch wenn der Hang unter der dichten Bebauung nur zu erahnen war. Ein weiterer kleiner Park, umgeben von einem hohen Gitterzaun, säumte ihre Seite der Kreuzung. Rafe erwartete sie am Eingang. Er lehnte mit der Schulter am Torbogen und schien sich nicht darum zu sorgen, dass sein weißes T-Shirt einen Fleck bekommen könnte. Sophie sah genauer hin. Nein, keine Knitterfalten, keine ausgeleierten Stellen. Es konnte nicht dasselbe Shirt sein wie am Abend zuvor.
»Salut«, grüßte sie, als sie vor ihm stand, und ihre Stimme kam ihr ungewohnt piepsig vor. Er hatte sich vom Tor gelöst, sagte jedoch nichts, sondern sah sie nur – suchend? – fragend? – an. Gegen das strahlende Blau des Himmels waren seine Augen dunkel wie tiefe Seen. Ihr Blick versank darin, verschwamm, als er eine Hand an ihren Hals legte und mit dem Daumen über ihre Wange strich. Unwillkürlich öffnete sie die Lippen, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen. Seine Gegenwart überflutete ihre Sinne und spülte jeden Gedanken davon. Ihre Hände suchten seinen Körper, hielten sich daran fest, denn die Beine drohten, unter ihr nachzugeben.
Der Kuss war fordernder, ließ sie atemlos und mit einem warmen Prickeln im Unterleib zurück. Mit noch immer verschleiertem Blick sah sie zu ihm auf. Überraschung flackerte für den Bruchteil einer Sekunde in seinen Augen. »Ich glaube wirklich, ich könnte dich kennen.«
»Du bist mein Verlobter.« Demonstrativ hob sie die Hand, an der sie noch immer den Ring trug, den er ihr auf dem Turm von Sacré-Cœur geschenkt hatte.
Erst runzelte er die Stirn, dann grinste er. »Was bin ich nur für ein Glückspilz.«
»Schön, dass du es von der fröhlichen Seite sehen kannst«, murrte Sophie. »Ich fand es weniger witzig, dich zu beerdigen.«
»Sehe ich aus wie einem Sarg entstiegen?« Er blickte an sich herab. »Nein, eher nicht.« Als er sah, dass sie mit Wut und Tränen kämpfte, legte er den Arm um ihre Schultern und drückte sie aufmunternd. »Hey, lass uns das vergessen und lieber unser Wiedersehen feiern. Dieses Mal wird es dir ganz sicher gefallen, wo wir hingehen.«
Nein, er war nicht mehr der Rafael, den sie kannte. Ihr Rafe hätte sie getröstet und mit ihr über ihre Gefühle gesprochen, anstatt schnell abzulenken. Es war merkwürdig und verunsichernd und sogar ärgerlich, aber dennoch tat es ihr gut, seinen Arm zu spüren, sich anlehnen und ihm die Führung überlassen zu können. Sie hatte ihn wiedergefunden, durch Schicksal, Zufall oder was auch immer. War das nicht unglaublich viel mehr, als jede trauernde Frau erwarten durfte? Wie konnte sie sich da kleinlich darüber beschweren, dass er nicht mehr derselbe war?
Gemeinsam überquerten sie die Kreuzung und folgten weiter der Rue des Écoles, bis sie sich gabelte. Rafe bog in die breite Rue des Fossés Saint-Bernard ab, die von modernen, fast schon industriell wirkenden Gebäuden gesäumt wurde. Nur wenige Menschen begegneten ihnen. Offenbar verlief sich an einem Samstagabend kaum jemand hierher. Nur ein einsamer, dem dunklen Teint und Haar nach zu urteilen vielleicht nordafrikanischer junger Mann hielt am Ende der Straße auf ein hohes, langgezogenes Haus zu, dessen graue Fassade in zahllose Quadrate unterteilt war. Jedes dieser Vierecke enthielt ein komplexes, an orientalische Ornamente erinnerndes Muster.
»Das Institut du Monde Arabe«, erklärte Rafe, der ihrem Blick gefolgt sein musste. »Ein Versuch, die kulturellen Beziehungen zwischen der arabischen Welt und Europa zu verbessern.«
»Sieht irgendwie seltsam aus – als hätte es gar keine Fenster.«
»Die Quadrate sind die Fenster. Sie bestehen aus Metallblenden, die den Lichteinfall je nach Sonnenstand automatisch steuern.«
Sophie warf ihm einen verwunderten Seitenblick zu. »Woher weißt du das?«
Er zuckte die Achseln. »Was man
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